Herz im Spiel
müssen mich durch ein Fenster im ersten Stock hineinschmuggeln?“, fragte Marianne.
„Meine Wohnung befindet sich im Erdgeschoss eines älteren Hauses und ist ausschließlich meinem Gebrauch vorbehalten. Ich habe die Freiheit, dort jeden einzulassen. Und heute Abend lade ich Sie ein, Miss Trenton.“
Das Haus, von dem Mr Desmond gesprochen hatte, war ein zweistöckiger Steinbau in der Nähe des Campus. Eine Wand war mit jahrzehntealtem Efeu bewachsen. Sie brauchten nur wenige Minuten dorthin. Desmond schloss die Tür auf und ließ Marianne ein. Hier drinnen war alles gepflegt und ordentlich. Da hing der übliche Spiegel über dem Tischchen für die Nippsachen,auf dem die typischen Porzellanfigürchen standen. Im Salon, in dem sich, wie Marianne nach dem Staub auf den Regalen und dem kaum benutzten Kamin schloss, selten jemand aufhielt, befand sich ein niedriges, mit rosa Blümchenstoff überzogenes Sofa. Gegenüber standen zwei zerbrechlich wirkende Stühle.
Die Wohnung hätte von Desmonds Großmutter eingerichtet sein können. Zweifellos hatte er sie komplett vom Vormieter übernommen und nie einen weiteren Gedanken an irgendwelche Veränderungen verschwendet. Die Studenten und Dozenten, die Mr Desmond hier besuchen, bekommen kein zutreffendes Bild von ihm, dachte Marianne.
Lässig wandte Desmond sich ab und nahm die Lampe mit. „Lassen Sie uns in der Küche essen. Ich kenne Sie zu gut, als dass ich versuchen würde, Sie in einem Raum zu bewirten, wo man uns von der Straße aus sehen kann.“
Die Küche war schon etwas individueller, vor allem jedoch unter praktischen Gesichtspunkten eingerichtet. Blitzschnell brachte er, wie versprochen, Brot, Fleisch und Käse. Marianne belegte die Brote, und danach verzehrten sie gemeinsam im Licht der einzigen beiden Kerzen, die er angezündet hatte, ihr einfaches Mahl.
Ein kleiner Ofen, den Desmond in Gang gebracht hatte, kaum dass Marianne die Küche betreten hatte, spendete Wärme. Marianne genoss die ruhige, gemütliche Atmosphäre.
„Ich nehme an, Brewster hegt ernste Absichten“, bemerkte Desmond unvermittelt, und sie schreckte aus ihren Gedanken auf.
„Sehr ernst“, antwortete Marianne in einem beiläufigen, gleichgültigen Tonfall, der ihren Vormund irritierte.
„Und ehrenhaft“, setzte er finster hinzu.
Marianne lächelte. „Oh, ganz und gar ehrenhaft“, bestätigte sie und dachte daran, wie Bernie beabsichtigt hatte, heute zu Miss Tamberlay zu gehen und um ihre Hand anzuhalten.
„Er hat noch nicht mit mir gesprochen, aber ich vermute, ich kann in nächster Zukunft mit einer offiziellen Erklärung rechnen, oder?“
„Ich glaube schon“, antwortete Marianne.
„Brewster ist ein guter Junge. Solide. Vielleicht nicht gerade brillant, aber er hat ein gutes Herz, was allemal mehr wert ist als oberflächliche Gewandtheit“, sagte Desmond. Er klang, als müsse er jemand überzeugen.
Das war bei Marianne nicht nötig. „Ich bin ganz Ihrer Meinung.“
„Ja, natürlich“, meinte Desmond und ließ über seinen längst geleerten Teller den Kopf hängen. „Er wird einen sehr guten Ehemann abgeben“, fuhr er fort.
„Mehr als gut. Ich glaube, er hat den Wunsch, seine Frau vollkommen glücklich zu machen, und das kann er auch“, sagte Marianne.
„ Sind Sie denn glücklich?“, erkundigte Desmond sich. Ihre Antwort würde ihn schmerzen, aber er musste ihr die Frage stellen, musste sicher sein.
„Es ist doch ganz gleichgültig, was ich dabei empfinde“, antwortete sie.
„Wie meinen Sie das?“, fuhr Desmond sie an. „Miss Trenton, Sie wollen doch mit dem Burschen in den Ehestand treten.“
„Nicht ich“, entgegnete Marianne ruhig. „Wenn meine ermunternden Worte ihr Ziel erreicht haben, macht Mr Brewster am heutigen Abend Miss Tamberlay einen Heiratsantrag.“
Desmond saß da und blickte sie ungläubig an. Er mochte Brewster. Bei ihm würde Marianne Sicherheit und Schutz finden. Er würde einen harmlosen, aufrichtigen Ehemann abgeben. Und das Geschäft seiner Familie lag in Reading. Er würde, wenn er heiratete, seinen neuen Hausstand gleich hier in der Stadt gründen. Dies war vielleicht Bernies allerbeste Empfehlung, wenn Desmond sich das auch niemals bewusst eingestanden hatte.
Aber der junge Brewster würde seine Marianne nicht heiraten.
All seine Pläne waren zerronnen, aber Desmond hätte nicht glücklicher sein können. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte einen Freudenschrei ausgestoßen. Stattdessen zog er die
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