Herz in Gefahr
edelmütig”, flüsterte er gebrochen. “Ich werde tun, was Sie wünschen.” Und dann hielt er inne, wie um seine Kräfte zu sammeln. “Es ist meine Mutter, Liebste. Jetzt erinnere ich mich. Der Junge brachte mir Nachrichten von ihr. Oh, Judith, sie stirbt! Der Schock hat meine Vernunft benebelt.”
“Wir müssen sofort zu ihr gehen.” Judith nahm seine Hand. “Sie müssen stark sein, Sir. Wenn wir warten, kommen wir vielleicht zu spät.”
“Ich lasse nicht zu, dass Sie sich in solche Gefahr begeben. Sie litt an den Pocken. Judith, Sie wissen, dass ich in Familienangelegenheiten unterwegs war. Jetzt kennen Sie die ganze Wahrheit.”
“Aber, Charles, man muss sich um sie kümmern. Wir können sie nicht allein sterben lassen.”
“Sie ist in besten Händen. Das war meine erste Sorge. Wir hofften auf eine Genesung, doch nun sind diese Hoffnungen zerschmettert worden. Oh, wie soll ich es ertragen?” Scheinbar erschüttert senkte er den Kopf.
“Ich habe keine Angst vor Krankheit”, protestierte Judith.
“Krankheit?” Ein düsteres Lächeln ließ seine Lippen erbeben. “Dies hier ist keine Krankheit, wie Sie sie kennen, Judith. Sie haben keine Vorstellung …”
Es bereitete ihm insgeheim den größten Genuss, die Symptome in den grauenhaftesten Farben zu schildern, und Judith hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund. Er beobachtete sie aufmerksam. Hatte er sie genügend geängstigt?
“Die Krankheit ist sehr ansteckend”, fuhr er traurig fort. “Meine Liebe, würden Sie Ihre Familie so einem Schicksal aussetzen wollen, ganz zu schweigen von Ihnen selbst? Das wäre wirklich unverantwortlich.”
“Sie haben recht”, stimmte sie ernst zu. “Aber Charles, was ist mit Ihnen? Sie müssen doch ebenso in Gefahr schweben?”
“Nein, nein! Ich hatte vor einigen Jahren einen leichten Anfall in Indien. Die Erfahrung war sehr unangenehm, gilt aber als eine Art Schutz vor einer richtigen Infektion, wie man mir sagte. Für mich besteht keine Gefahr.”
“Dann gehen Sie zu Ihrer Mutter. Ich darf Sie nicht aufhalten.”
“Wie gut Sie sind!” Er war klug genug, nicht ihre Hand zu ergreifen. Zwar stand er in ihren Augen wieder etwas besser da, aber er konnte nicht vollkommen sicher sein, trotz ihres offensichtlichen Mitgefühls.
Judiths Reaktion hatte ihn erstaunt. In seiner mörderischen Wut hatte er jede Selbstbeherrschung verloren, aber Judith hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Obwohl sie es auf andere Weise zum Ausdruck gebracht hatte, war ihre Wut seiner durchaus gleichwertig. Er war so sicher gewesen, dass er Judiths Willen jederzeit seinem beugen könnte, aber heute hatte er eine andere Seite ihres Charakters kennengelernt. Es lag eine ungeahnte Stärke unter dem bescheidenen Äußeren. Er hatte sie falsch beurteilt, das war nur allzu deutlich. Die Erkenntnis irritierte ihn.
“Ich werde vielleicht einige Tage fort sein”, sagte er leise. War es seine Einbildung, oder sah sie tatsächlich ein wenig erleichtert aus? Er war nie so kurz davor gewesen, sie zu verlieren, und er wusste es. Er musste ihr Zeit geben, sich von dem Schrecken zu erholen. Die angebliche Krankheit seiner Mutter war eine ideale Ausrede und gab ihm die Gelegenheit, sich um die kleine Angelegenheit mit Nellie und ihren Freunden zu kümmern.
Judith lehnte sein Angebot, sie nach Hause zu begleiten, ab und drängte ihn, stattdessen zu seiner Mutter zu eilen. Es tat ihm nicht leid, sie zu verlassen.
Judith selbst war zutiefst verwirrt. Sie hatte Charles Truscotts Erklärung für seinen Wutausbruch akzeptiert und ihm sogar ihr Mitgefühl geschenkt, aber sie konnte nicht die schmale Gestalt des Jungen vergessen, der bewusstlos auf dem Boden lag. Charles musste einen Augenblick nicht bei Sinnen gewesen sein, um zu so einer Untat fähig zu sein.
Leiser Zweifel begann an ihr zu nagen. Wenn ihre Freunde nun doch recht hatten? Es wäre unerträglich, aber sie musste der Wahrheit ins Gesicht sehen. Plötzlich sehnte sie sich mit aller Kraft nach Dan. Sie hatte sich entschlossen, sich mit seiner Freundschaft zufriedenzugeben, aber selbst die würde ihr versagt bleiben, wenn sie Reverend Truscott heiratete.
Völlig niedergeschlagen kam sie zu dem Schluss, dass es das Beste war, wenn sie ihre Besuche in der Mount Street ganz einstellte.
Mrs Aveton beabsichtigte, guten Nutzen aus den letzten Wochen vor Judiths Hochzeit zu ziehen, und bestellte Roben, Halstücher, Häubchen, Handschuhe und Unterwäsche, die sie und ihre Töchter für
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