Herz in Not
die gichtigen Hände der Tante. „Es ist eine Erfahrung, Tante Matty. In Zukunft werden wir vor solchen ... Männern auf der Hut sein! Und außerdem: Wir haben herrliche Tage in London erlebt. Du hast Margaret und alle deine alten Bekannten wieder gesehen, und ich habe in Emma eine neue Freundin gewonnen.“ Vorsichtig löste sie sich von ihrer Tante und stand auf. „Mr. Beresford ist ein sympathischer Mann ... wenn auch nicht reich. Wir müssen Hartfield verkaufen, aber ich bin sicher, dass genug übrig bleibt, um uns allen ein bescheidenes Auskommen zu ermöglichen. Vielleicht ist eine Heirat gar nicht nötig.“ Sie seufzte nachdenklich. „Samuel, Sally und all die anderen Bediensteten werden wir wohl entlassen müssen. Aber mit einem guten Zeugnis werden sie bestimmt schnell wieder eine Anstellung finden.“ Sie ging zum Fenster. Wie mag es wohl dem Hänfling ergehen, fragte sie sich, während sie den Vollmond betrachtete. Ob der kleine Vogel seine Freiheit genoss? Oder war die Gefangenschaft doch das bessere Los gewesen?
Übermütig drehte Emma eine Pirouette vor Victoria. „Wie sehe ich aus?“ wollte sie wissen und zeigte auf ihre Lockenfrisur, in die Beryl
kunstvoll ein pfirsichfarbenes Samtband geflochten hatte.
„Überwältigend! Aprikot steht dir vortrefflich. Und die Bernstein-Ohrhänger passen hervorragend zur Farbe des Kleides.“ Verschwörerisch senkte Victoria die Stimme: „Das Kleid hat deine Mutter wohl nicht ausgesucht.“
Emma schüttelte lachend den Kopf. „Nein, das habe ich schon vor Monaten ganz allein eingekauft.“ Interessiert begutachtete sie Victorias Kleid. „Du siehst in Lila genau so aufregend aus wie in Grau oder Lavendel ... alle Farben stehen dir ...“
„Genug der Komplimente, Emma. Wir gehen jetzt besser hinunter“, warnte Victoria. „Deine Gäste treffen nämlich bereits seit einer halben Stunde ein.“
„Emma! Wo bleibst du denn?“ rief Margaret Worthington wie auf Kommando. „Die Blairs und die Watsons sind schon da. Und Sophie Greig trägt ein Kleid in genau demselben Orange wie du. Habe ich dir nicht gesagt, dass die Farbe zur Zeit modern ist?“
Victoria nickte der Freundin aufmunternd zu, machte einige höfliche Bemerkungen über das Kleid der Gastgeberin und folgte Emma die Treppe hinunter.
Im Großen Salon fand Victoria die Tante. „Margaret hat sich selbst übertroffen“, lobte Matilda ihre Schwägerin. Victoria schaute sich still um, bewunderte die Intarsienarbeit im Parkett und die vielen funkelnden Kristall-Kandelaber. Im Kamin flackerte ein heimeliges Feuer. Ein Summen von gedämpften Stimmen und verhaltenem Lachen durchzog den Raum. Elegant gekleidete Gäste hatten bereits auf den Stühlen an den beiden Längsseiten des Salons mit Blick auf die Tanzfläche Platz genommen. Das einladende Büfett mit seinen vielen Köstlichkeiten, das im Esszimmer aufgebaut worden war, hatten Victoria und ihre Tante schon vor Stunden bestaunt. Zur Feier des vierundzwanzigsten Geburtstages ihrer Tochter hatte Margaret wirklich keinen Aufwand gescheut.
„Suchen wir uns einen Platz, Tante Matty. Oh, da kommen Mrs. Plumb und Mrs. Porter“, warnte Victoria. „Sollen wir ihnen das letzte bequeme Sofa vor der Nase wegschnappen?“
„Nein“, lehnte Matilda entschieden ab. „Versteck deine Schönheit doch nicht! Gehen wir lieber herum und lernen neue Leute kennen ...“ Victoria schwieg. Ein wehmütiger Zug lag um ihren Mund, und ihre Augen schimmerten seltsam rauchig-grau. Den Traum, dass ein reicher ehrenwerter Held auf diesem Ball auftauchen und sie vor dem Ruin retten würde, wollte ihre Tante wohl einfach nicht aufgeben.
Anerkennend ließ Matilda den Blick über die schlanke Gestalt ihrer Nichte im lila Seidenkleid streifen. „Ausgesprochen hübsch siehst du in der neuen Robe aus. Das Dekolletee bringt deine weiße Haut und deine Schultern voll zur Geltung.“
„Meinst du nicht, ich sollte doch ein Fichu tragen?“ fragte Victoria besorgt. Im Geiste hörte sie schon die gehässigen Worte der Matronen. Nicht dass sie sich nicht hätte wehren können, aber sie wollte um keinen Preis Emma den Geburtstagsball verderben.
„Auf keinen Fall! Du hast den wohlgeformtesten Busen aller anwesendenjungen Frauen“, erklärte Matilda. „Was manche so an Frivolitäten zeigen“, und dabei ließ sie ihren Blick empört über tiefe Dekolletees schweifen, „da wirkt dein Kleid äußerst dezent. Es ist eine Freude, dich anzusehen.“
„Ach, Tante! Du
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