Herz und Fuß
dass ich darauf geachtet hätte.
»Natürlich.« Sie hielt mir ein kleines Paket entgegen. »Für dich.«
Ich nahm es ihr verlegen aus der Hand und ging vor ihr her, in meine Wohnung.
»Klasse!« Sie lehnte ihre Aktentasche an die Wand und blieb begeistert vor der riesigen, schwarz-weißen Comic-Zeichnung einer maskierten Superheldin stehen, die den größten Teil meiner Wohnzimmerwand einnahm. »Das Bild sieht toll aus. Und passt toll hier rein.« Sie bedachte auch den hellen Raum und die wenigen Möbel mit wohlwollenden Blicken.
»Danke.« Ich nestelte an der Verpackung der kleinen Schachtel und sah ihr zwischendurch dabei zu, wie sie sich in meinen Räumen umsah. Ihr Gesicht ließ vermuten, dass ihr alles, was sie sah, einigermaßen zusagte. Und dass ihr die Stellen an der Wand, an der IHRE Bilder gehangen hatten, auffielen. Und das Gedicht, das in großen schwarzen Buchstaben die weiße Wand im Flur bedeckte. Sie las es sich leise vor:
Du gehst neben mir und die Stadt wird bloße Kulisse.
Wird nur für uns
hinabgelassen,
hochgezogen,
aufgestellt
und weggeschoben,
mit jedem Schritt, den wir gehen.
Die Zeit hat das Zählen von Sekunden aufgegeben und rennt und springt wie ein junger Hund um uns herum.
Das ist Glück, denke ich und hebe mein Gesicht.
Über uns warten Millionen von ewigkeitsmüden Engeln ungeduldig darauf, sich federleicht durch diesen einen Augenblick tragen zu lassen.
Mag sein, dass die anderen sie für Schneeflocken halten werden.
»Sag mir bitte, dass das da schon länger klebt und dass es nicht von Rilke ist.« Sie schaute mich prüfend an. So seltsam das auch klang, aber mir fiel erst in diesem Augenblick auf, dass das Wort Engel in diesen Zeilen vorkam. »Das klebt da schon sehr lange und es ist nicht von Rilke. Und es ist ein weiterer Beweis dafür, dass Engel nicht unbedingt etwas mit meinem Namen zu tun haben müssen.« Oder nur wenig. SIE hatte mir diese Klebebuchstaben geschenkt, angebracht hatte ich sie selber.
»Dann also eine unglückliche Liebe?« Sie zeigte abwechselnd auf das Gedicht und den Fleck, über dem früher ein Bild von IHR und mir gehangen hatte, das ich in jenem ersten Winter mit Selbstauslöser gemacht hatte. Es waren nicht mehr sehr viele Bilder von uns beiden dazu gekommen, denn auch gemeinsame Fotos beunruhigten SIE.
»Du bist verrückt!« Ich nahm vollkommen überrascht ein schwarzes Armband, wie das, das sie auch heute wieder trug, aus der kleinen Schachtel.
»Wegen des Geschenks oder wegen meiner Vermutung, was die Liebe angeht?« Sie lächelte mich entwaffnend an.
»Wegen des Geschenks! Das wäre doch nicht nötig gewesen.« Ich klang wie eine ältliche Tante, der man eine Flasche Kirschlikör geschenkt hatte.
»Es hat dir doch so gut gefallen. Eine Freundin von mir macht die selber und ich dachte, du könntest eine kleine Freude gebrauchen.«
Ich brauchte eigentlich jemanden, der Wasser in Wein verwandeln konnte, würde mich aber in diesem Fall mit einem Armband zufriedengeben. »Vielen, vielen Dank!« Ich versuchte, mir das Band um den Arm zu legen, bekam aber den Verschluss mit nur einer Hand nicht zu.
»Lass mich das machen.« Sie drückte die beiden Elemente des Verschlusses ineinander und drehte das Armband so, dass der silberne Anhänger oben lag. Dann hielt sie ihr Armband wie zum Vergleich neben meines und lachte mich an. »Partnerlook.«
Die Unschuld, mit der sie unsere frisch verpartnerten Arme betrachtete, zeigte mir deutlich, dass ihre Sympathie für mich von keiner heimlichen Leidenschaft getrübt war. Sie bemerkte meinen melancholischen Blick und fragte ernsthaft. »Wie geht es dir?«
Ich riss mich aus meinen Gedanken. »Wenn ich das wüsste. Es gibt Tage, an denen ich das alles unwirklich finde, dann wieder macht es mir Angst oder es macht mich wütend. Ich bin nicht gern allein und ich bin noch viel weniger gern unter Menschen.« Bei ihr versuchte ich gar nicht erst, unehrlich zu sein.
Sie hatte meine Worte mit leichtem Kopfnicken begleitet. »Ich kann das so gut verstehen. Bin selber überrascht, wie sehr mich der Anblick dieses Fußes aus der Bahn gehauen hat. Irgendwie war das vorher alles nur Theorie, weißt du? Obwohl ich ja die Bilder gesehen und mit den Polizisten darüber gesprochen hatte. Aber es war nur eine Geschichte, die ich möglichst gut erfassen wollte. Jetzt ist es anders, jetzt ist es mir passiert.
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