Herz und Fuß
die ich Irene gezeigt hatte. Ich unterbrach ihre innige Umarmung, um sie nach einer älteren Frau mit langem Haar zu fragen. Sie sahen mich seltsam an, verneinten und behielten mich im Auge, als ich den Weg zum Haus zurück antrat.
Zwischen meinem verheulten Anruf und Irenes Klingeln an unserer Tür lagen keine zwanzig Minuten und da ich wusste, wo sie wohnte, wusste ich auch, dass es wenige Verkehrsregeln gab, die sie in diesen zwanzig Minuten nicht gebrochen hatte. Ihr Anblick, den ich mir bewusst vorenthalten hatte, wirkte wie der erste Melissa-Etheridge-Song nach einer ganzen Woche im lustigen Musikantenstadl. Sie drückte mich lange und fest an sich, sah mir dann kurz in die Augen und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Selbst durch die Tränen, die mir beide Augen ertränkten, konnte ich sehen, wie schön sie war, und das ließ mich noch trauriger werden. Sie schaffte es, die Einzelheiten meines Nachmittags nach und nach aus den Fluten, die durch mein Gesicht strömten, zu retten und sprach schließlich aus, was ich gefürchtet hatte.
»Wir müssen die Polizei verständigen, Charlotte.«
Sie hatte recht, natürlich hatte sie recht. Aber diese Handlung würde aus einer privaten Vermutung eine öffentliche Realität machen.
»Komm, ich fahre dich zur Wache.« Sie zog mich in Richtung Tür.
»Nein!« Ich machte mich los. »Wir rufen an. Ich kann nicht weg. Ich muss doch hier sein, wenn sie kommt. Oder wir gehen sie noch einmal suchen …«
Irene nahm meine Hand, eine Geste, die mich normalerweise in milde Erregung versetzt hätte, die ich aber jetzt nur am Rande wahrnahm.
»Wenn wir sie suchen gehen, bist du auch nicht hier. Ich rufe jetzt die Polizei. Sie sollen jemanden schicken.«
Und sie schickten jemanden, den großen Beamten, der mich beim ersten Fund befragt hatte. Ich sprudelte ihm meinen Nachmittag in verheulten Lauten entgegen und Irene übersetzte meine Äußerungen zurück in die Landessprache. Er hörte aufmerksam zu, stellte Fragen, machte sich Notizen und begann schließlich zu reden. Was ich seinen vielen Sätzen über das freie Aufenthaltsbestimmungsrecht von Erwachsenen, die relativ kurze Abwesenheit und die Ausnahme, die dieser Fall in Hinblick auf die vorausgegangenen Ereignisse darstellte, entnehmen konnte, war, dass sie nach meiner Mutter suchen würden. Seine Frage nach einem Foto brachte mich in Schwierigkeiten, denn nur mein Vater hatte auf Familienfesten fotografiert und nach seinem Unfall hatte es niemand mehr getan. Es hatte auch nur noch wenige Feste gegeben. Ich durchsuchte meinen PC und fand schließlich eine Aufnahme der Webcam, die ich gemacht hatte, als ErzEngel mir die Funktionen erklärt hatte. Ich brannte sie auf eine CD und druckte sie gleichzeitig aus. Als ihr lächelndes Gesicht, umrahmt von den weißen Zöpfen, tintengeschrieben aus dem Drucker ratterte, wurde der Gedanke, ihr könne etwas passiert sein, plötzlich übermächtig und mir wurde übel. Irene bemerkte das leichte Zittern, das mich überlief, nahm mir das Bild und die CD aus der Hand und überreichte beides dem Beamten. Der hatte während meiner Suche telefoniert und versicherte mir jetzt, dass alle nötigen Schritte in diesem Moment eingeleitet wurden und dass der Fall eine hohe Priorität habe.
»Vielleicht ist ihre Mutter wirklich einfach zu einem Besuch unterwegs und hat Sie nicht darüber informiert? Hat sie Bekannte außerhalb der Stadt? Verwandtschaft? Das müssten wir alles überprüfen.«
Ich schüttelte den Kopf und entschloss mich, ihm die Lage noch einmal eindrücklich zu erklären.
»Meine Mutter fährt weder Auto noch benutzt sie öffentliche Verkehrsmittel. Sie entfernt sich nie weiter als ungefähr einen Kilometer von unserem Haus und ich habe alle Punkte, die sie erreichen kann, überprüft.«
»Die sie erreichen kann?« Der große Beamte hatte sich meine Worte mitgeschrieben und las jetzt die letzten vor. »Ist ihre Mutter gehbehindert oder sonst erkennbar eingeschränkt, was die Mobilität angeht? Das haben Sie vorhin gar nicht erwähnt.«
Warum mussten diese Menschen immer klingen, als hätten sie eine Dienstanweisung gefrühstückt? Wie sollte ich ihm ErzEngel so erklären, dass sie in einen seiner mentalen Vordrucke passte? Ich holte tief Luft und suchte seinen Blick.
»Meine Mutter ist in keiner Weise behindert. Sie hat sich nach einem traumatischen Erlebnis entschlossen, nicht mehr am Straßenverkehr
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