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Herz und Fuß

Herz und Fuß

Titel: Herz und Fuß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Bax
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teilzunehmen und ihren Radius stark begrenzt. Das ist ihre Art, mit dem Trauma zu leben. Und deshalb bin ich auch so beunruhigt. Sie fährt nicht einfach weg, sie geht nicht einfach weg, das kann sie doch gar nicht.« Mir kamen wieder die Tränen.
     
    Sein Blick zeigte keinerlei Verwunderung, aber auch kein Verständnis, wahrscheinlich brachte sein Beruf das mit sich. Er nickte, während er sich weiter Notizen machte und sagte dann: »Es tut mir leid, dass ich sie das fragen muss, aber ihre Mutter ist geistig klar?«
     
    Klarer als die meisten Menschen, die ich kenne, wollte ich antworten, aber ich sagte nur: »Ja.« Und war mir innerlich nicht ganz sicher. Er nickte wieder leicht, aber er nickte nicht zustimmend.
     
    »Sie sagten, als Sie nach Hause kamen, hätte die Haustür offen gestanden? Es fehlte aber nichts im Haus?«
     
    »Nein. Alles war wie immer. Meine Mutter vergisst manchmal, die Tür zu schließen.«
     
    »Vergisst sie sonst noch irgendwelche Dinge?« Man merkte, dass er die Frage in dieser Form stellte, um mir nicht zu nahe zu treten.
     
    Ich merkte, wie ich wütend wurde. Auf ihn und seine gut gewählten Worte, auf diese Situation, auf meine Angst und auch auf meine Mutter. »Ja, sie vergisst Sachen. Aber nur Dinge, die sowieso nicht wichtig sind.« Meine Stimme klang ein wenig wie eine anlaufende Kettensäge.
     
    Der Beamte hob seine Hände beschwichtigend und sagte dann: »Haben Sie Geschwister oder gibt es noch andere nahe Verwandte?«
     
    Mein Bruder, ich hatte nicht einmal daran gedacht, bei ihm anzurufen. Bei dem Gedanken daran, was ein solcher Anruf bei ihm und seinem angetrauten Eiszapfen auslösen würde, wurde mir kalt. Seine Beschreibung unserer Mutter würde anders ausfallen und dann würde die Polizei von einer stark verwirrten Seniorin ausgehen und nicht mehr von ErzEngel, die genau wusste, was sie tat.
     
    »Ich habe einen Bruder, aber der Kontakt ist nicht sehr eng. Meine Mutter würde dort nicht hingehen, ist auch außerhalb ihres Kreises.«
     
    Wieder dieser seltsam neutrale Blick. »Wir sollten ihren Bruder jetzt auf jeden Fall anrufen.«
     
    Ich sah auf die Uhr. »Es ist mitten in der Nacht. Hat das nicht bis morgen Zeit?«
     
    »Sie wollen doch ihre Mutter finden, nicht wahr? Da müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
     
    Das war keine Möglichkeit, aber das konnte und wollte ich ihm nicht erklären, also wählte ich die Festnetznummer meines Bruders. Während ich dem Freizeichen lauschte, stellte ich mir vor, wie das Klingeln an den kahlen Wänden des Eigenheims entlangglitt. Heiners Stimme klang so unwirsch, wie man das mitten in der Nacht erwarten konnte.
     
    Ich unterbrach seine Frage. »Ist Mutti bei dir?« Eigentlich fragte ich das nur, um den Beamten zu beruhigen. Er hätte mich schon vor Stunden angerufen, wenn sie vor seiner Tür gestanden hätte.
     
    »Natürlich nicht.«
     
    »Sie ist nicht hier«, sagte ich, weil ich das Wort verschwunden jetzt schon hasste.
     
    »Was heißt das, sie ist nicht hier? Läuft sie um diese Zeit etwa irgendwo draußen herum? Da kann doch alles Mögliche passieren.«
     
    »Heiner, ich weiß nicht, wo sie ist. Ich bin heute Mittag nach Hause gekommen und sie war nicht da. Seitdem hat sie sich nicht gemeldet. Ihr Handy ist aus.«
     
    In dem wilden Wortschwall, der folgte, fanden sich all die Sachen, die ich befürchtet hatte. Auch Irene und der Polizist konnten seine Ausführungen zu den Themen Wahnsinn, Leichtsinn und Konsequenzen ohne Mühe verstehen. Ich stand vollkommen still und neue Tränen wuschen kleine Kanäle in mein Gesicht. Irene nahm mir kurz entschlossen das Telefon aus der Hand und erklärte meinem Bruder, ohne sich vorzustellen, dass die Polizei verständigt sei, er sich gerne an der Suche beteiligen könne und dass wir uns melden würden, wenn es Neuigkeiten gebe. Offensichtlich fragte er sie, wer sie sei, denn bevor sie auflegte, sagte sie kurz und bestimmt: »Ich bin Charlottes Freundin!« Sie sah mich dabei an und mitten in all dem Schmerz, der Verwirrung und der Angst, die mich zu ertränken drohten, tauchte ein winziges Atoll verborgenen Glücks auf, an dem ich mich festklammerte.
     

»Was können wir tun?«,
     
    hatte Irene den Beamten gefragt, als er sich zum Gehen schickte und mir damit die Worte aus dem Mund genommen. »Sie können hier bleiben und uns verständigen, wenn Ihre Mutter anruft oder zurückkommt. Wir halten Sie auf dem Laufenden.« Dass er »wenn« und nicht »falls«

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