Herz und Fuß
winzigen Abstand zwischen ihren und meinen Lippen und gab ihr einen scheuen Kuss. Als ich den Kopf wieder heben wollte, folgte sie mir einfach und unsere Münder blieben aufeinander. »So küsst du eine Frau?« Ich erfühlte ihre Worte durch die Bewegung ihrer Lippen auf meinen.
»So küsse ich eine Freundin.« Ich strich ihr meine Worte mit wenigen Lippenbewegungen auf den Mund.
»Und wie küsst du eine Geliebte?«
Meine Seligsprechung in Rom wurde abgesagt, denn ich öffnete meinen Mund für sie und ließ ihre suchende Zunge hinein. Als sie auf meine Zunge traf stöhnten wir beide kurz auf. Und dann küssten wir uns eine Ewigkeit, spielerisch, wild, mutig und scheu, ohne uns zwischendurch anzusehen oder ein weiteres Wort zu sprechen. Unsere aneinander gesaugten Münder waren wie eine vollkommene, warme, feuchte Welt, in der wir uns übermütig tummelten, ohne dass die angenehme Erregung uns in andere Regionen drängte. Ich hatte nicht gewusst, dass es für zwei Zungen so viele verschiedene Möglichkeiten gab, sich zu berühren. Im ersten Morgengrauen legte Irene erschöpft ihre Wange an meine und ich konnte hören, dass sie wieder einschlief. Und auch, wenn ich glaubte, dass ich kein bisschen müde war, folgte ich ihr in den Schlaf, ohne sie loszulassen.
Das Telefon klingelte
und mein Kopf dröhnte. Und irgendetwas war anders. Mein Rücken war kalt und Irene lag nicht mehr dicht hinter mir. Ich drehte den Kopf, der das nicht lustig fand. Irene lag nicht mehr in meinem Bett. War sie zum Telefon unterwegs? Ich konnte keine Schritte hören und außerdem klingelte es auch weiter. Der Gedanke an meine Mutter kam bei diesem Erwachen später, aber er sorgte dafür, dass meine Füße mich schnell in die Richtung des Klingeltons trugen. Auf dem kurzen Weg war ich nicht sicher, ob mein Kopf schon immer in dieser Höhe transportiert worden war. Der Boden schien bei den ersten Schritten weiter weg zu sein, als noch gestern, und die Zimmerdecke gleichzeitig näher. Ein Eindruck, der sich bis zum Telefon noch mehrmals verkehrte und von schwankenden Wänden begleitet wurde.
»Gabriel.« Ich hustete meinen Namen in die Sprechmuschel.
»Guten Tag Frau Gabriel.« Die Ärztin vom gestrigen Tag stellte sich kurz vor und eröffnete mir dann, dass meine Mutter nach mir gefragt hatte. »Verstehen Sie? Das sind sehr gute Nachrichten, Frau Gabriel. Ihre Mutter spricht extrem gut auf die Behandlung an. Sie ist jetzt gerade bei einigen Untersuchungen, aber es wäre schön, wenn Sie dann vorbeischauen könnten. Ein vertrautes Gesicht beschleunigt die Orientierung sicher weiter.«
»Danke. Vielen Dank. Ich wollte heute Morgen sowieso kommen.« Ich legte auf und suchte nach einer Uhr. Oh. Es war zwei Uhr.
Bekleidet mit dem ersten Kleidungsstück, das ich fand, wankte ich durch das ganze Haus. Irene war nicht in der Küche, sie war nicht im Bad oder in der Wohnung meiner Mutter. Irene war nicht mehr da. Ich trottete traurig und verwirrt zurück zum Bett und sah erst jetzt den Zettel auf dem Kopfkissen.
»Ich rufe dich an«, stand da. Kein Gruß, kein Name, keine Unterschrift. Mich erinnerte das schmerzhaft an IHRE wenigen Notizen, die auch immer unsigniert geblieben waren, aus Angst, ich könnte sie in der Welt verbreiten wollen.
Ruf du mich bitte nicht an, hatte Irene zwar auch nicht geschrieben, aber es schien trotzdem in einer unsichtbaren Unterzeile zu stehen. Oder glaubte ich nur, dass sie das meinte, weil ich sicher war, dass ihr heute Morgen alles leid tat und sie Abstand wollte?
Tat ihr denn alles leid?
Wollte sie wirklich Abstand?
Nun ja, sie war grußlos gegangen und was sie nicht gesagt hatte, verriet das leere Bett.
»Du hast was?«
Ich rief Baby aus dem Auto an, in das ich es einigermaßen gewaschen und gekämmt gegen fünfzehn Uhr geschafft hatte. Jetzt, wo meine Mutter wieder da war, war es mir leichter gefallen, ihr altes Handy aus den Schubladen zu suchen und meine Erreichbarkeit sicherzustellen.
»Ich habe Irene geküsst. Wir haben uns geküsst. Die ganze Nacht lang.« Ich fasste mir an meinen Mund, der vom vielen Küssen immer noch ganz weich war.
»Mehr nicht?«
»Nein, und gerade deshalb war es der Wahnsinn.«
»Und sie war betrunken?«
»Wir waren beide betrunken.«
»Und heute Morgen war sie verschwunden?«
»Sie hat einen Zettel aufs Kopfkissen gelegt und geschrieben, dass sie mich anruft. Ist das gut oder
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