Herzbesetzer (German Edition)
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Nach einer weiteren etwa halbstündigen Diskussion um die Frage, ob er nun mit zu Judith geht oder nicht, erpresse ich ihn mit der Drohung, dass ich ihn anderenfalls vorher nach Hause bringe, und er kapituliert, während ich mich verstohlen an meiner Macht berausche. Leider kann ich nicht verhindern, dass er sich sein neues Hundehalsband umlegt und das Heimkind-T-Shirt anzieht, an dem er außerdem noch gut sichtbar einen Button mit der Aufschrift »Mach dich nützlich und stirb« befestigt. In Verbindung mit einer frisch erneuerten Kajalbemalung, seinen perforierten Lieblingsjeans und diesem trotzig-schmollenden Gesichtsausdruck sieht er aus, als hätte ich ihn auf dem Straßenstrich eingesammelt.
Zunächst redet Anoki praktisch kein Wort, obwohl Judith ihn freundlich begrüßt und ihm ein paar wohlmeinende Fragen stellt. Dann arbeitet er sich ohne Bescheidenheit systematisch durch die große Schüssel mit Couscous – die sie zweimal neu auffüllt –, ohne Zeichen von Sättigung zu zeigen. Dazu trinkt er mit derselben Zielstrebigkeit ihren Biowein, ein Glas nach dem anderen. Ich gebe voller Beschämung zu, dass ich mich nicht traue, ihm das zu verbieten, weil ich fürchte, dass er dann erst richtig ausrastet. Vielleicht macht der Alkohol ihn auch ein bisschen milder. Ja, schon klar, pädagogisch absolut unhaltbar. Aber warum sagt Judith denn nichts? Es ist schließlich ihr Wein und ihre Wohnung. Sie könnte doch einfach sagen: »So, jetzt steigst du aber mal um auf ungespritzten Apfelsaft«, oder? Sagt sie aber nicht. Und ich kann den Bengel ja nicht fortwährend alleine erziehen.
Una starrt Anoki während der gesamten Mahlzeit an. Ich wüsste gern, ob sie insgeheim beschließt, auch mal so provozierend gleichgültig und latent flegelhaft zu werden, oder ob sie ihn verabscheut. Er würdigt sie jedenfalls keines Blickes, genau wie er auch Judith nicht ansieht und mich nur gelegentlich – lauernd, flüchtig aus den Augenwinkeln, als wolle er prüfen, wie sein Benehmen auf mich wirkt. Darüber hinaus widmet er sich ausschließlich dem Essen und Trinken. Übrigens haben seine Tischmanieren immer noch nicht ganz den Standard erreicht, mit dem Benjamin und ich großgeworden sind, aber auch hier bewegt er sich genau auf jener Grenze, an der man unaufhörlich überlegt, ob es Sinn hat, etwas zu sagen. Die Unterhaltung bei Tisch bestreiten also in erster Linie Judith und ich; Una schaltet sich nur gelegentlich ein, um zu beweisen, dass sie ebenfalls eine Meinung hat, meist eine abweichende. Es geht um unseren Urlaub. Ich habe mich während der letzten Wochen zunehmend auf Italien fixiert, während Judith unbedingt nach Griechenland möchte und Una Spanien bevorzugt. Unsere Verhandlungen sind ungefähr so ergiebig wie die zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaftsführern. Anoki sollte sich eigentlich daran beteiligen, hält sich aber demonstrativ heraus und kommuniziert damit wortlos: »Ihr könnt mich am Arsch lecken, ich fahr sowieso nicht mit.«
Nachdem die Mahlzeit beendet und jedes essbare Atom aus den Schüsseln verschwunden ist, lehnt er sich mit lang ausgestreckten Beinen auf seinem Stuhl zurück, hakt die Daumen in seine Hosentaschen und beobachtet uns halb spöttisch, halb genervt unter seinen wirren Dreadlocks hervor, als hätte sein Schauspiellehrer ihm die Aufgabe gestellt, einen bockigen Teenager zu mimen. Respekt – er macht das echt toll. Ich ignoriere Anoki, seit wir hier sind, aber Judith ist einfach zu lieb (und womöglich zu naiv) dafür. Immer wieder versucht sie, ihn ins Gespräch einzubeziehen, nur um verächtliches Schweigen oder ein herablassendes Grinsen zu kassieren. Am liebsten würde ich ihr sagen, sie soll das lassen, weil sie sich komplett zum Affen macht, aber so ist sie eben: freundlich, harmoniebedürftig und immer beseelt von dem Wunsch, dass alle zufrieden sind. Es ist nicht zu übersehen, dass Anoki das heimlich genießt, denn wenigstens hat er in ihr eine Plattform für seine ambitionierte Darbietung.
»Nun sag doch mal«, drängt sie ihn zum dritten Mal, »wo würde es dir denn gefallen? Du musst doch irgendwelche Ideen haben!«
Er zuckt die Schultern und lässt gelangweilt den Blick zum Fenster hinauswandern. Zum Glück fällt mir in diesem Moment ein, dass ich noch ein paar Reisekataloge im Auto habe, und ich springe erleichtert auf, um sie zu holen.
Auf dem Weg nach unten atme ich mehrmals tief ein und aus und überlege mir eine Reihe von Strafen für meinen
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