Herzbesetzer (German Edition)
missratenen Verräterbruder. Ich denke sogar darüber nach, einfach ins Auto zu steigen und wegzufahren, und dabei muss ich lächeln. Das würde Anoki mir nie verzeihen, aber verdient hätte er’s! Leise in mich hineinkichernd öffne ich die Autotür. Natürlich zieh ich das nicht durch. Trotzdem, die kleine Pause und meine Fantasierache haben mir gutgetan, und mit neuem Schwung hüpfe ich die Treppen wieder hoch zu Judiths Wohnung. Ich hatte die Tür nur angelehnt, und als ich reinkomme und mir im Flur die Schuhe ausziehe, höre ich Anokis Stimme. Nanu – er kann sprechen?
»War ja wieder ein ziemlich geiler Abend mit dir«, sagt er langsam und laut. »Nächsten Dienstag hätte ich wieder Zeit, und du? Kuss Janine.« Ich stürme das Esszimmer und sehe ihn von meinem Handy aufblicken. Als er mich sieht, verzieht er den Mund zu einem triumphierenden, bösartigen Lächeln. Judith schaut mich ebenfalls an, aber mit einem Ausdruck schmerzlicher Verwunderung. Und Una guckt auf mein Display, als erwarte sie dort noch ein Nacktfoto der Absenderin.
»Was machst du mit meinem Handy?«, schreie ich.
Anoki spielt den Gekränkten. »Ich dachte, das wär ’ne SMS von Petra«, sagt er mit bemitleidenswert dünnem Stimmchen. »Hätte doch sein können! Dass die sich wenigstens bei dir mal meldet! Tut mir leid, ich konnt ja nicht wissen …«, fügt er noch mit einer hinreißend hilflosen Geste hinzu. Wie er diesen Satz so unvollendet in der Luft hängen lässt, verstärkt er die dramatische Wirkung beträchtlich. Er ist wirklich gut. Aber ich bin jetzt so wütend auf ihn, dass ich seine darstellerische Leistung einfach nicht würdigen kann. Mit einer schnellen Bewegung reiße ich ihm das Handy aus seinen intriganten Fingern und stopfe es in meine Hosentasche, und schon fragt Judith gefährlich ruhig: »Wer ist denn Janine?«
Ich stehe stumm vor dem Tisch, lasse meine Augen von Judith zu Anoki und wieder zurück flackern, schwitze und weiß nicht, was ich sagen soll. Und dann entweichen meinem Mund ohne mein willentliches Zutun die unsagbar erbärmlichen Worte: »Äh, keine Ahnung. Bestimmt eine Verwechslung.«
Anoki stützt nachdenklich den Kopf in die Hand und sagt: »Hieß nicht deine Exfreundin Janine? Diese blonde mit den großen …«, er räuspert sich und wirft einen schnellen Blick zu Judith hinüber, »… Augen? Die hübsche?« Hübsch? Er fand sie abartig, strunzdoof und hat mich gefragt, ob auf ihrem Kopf ein seltenes Tier gestorben sei.
Judith steht schwerfällig auf und stapelt mit müden Bewegungen die schmutzigen Teller aufeinander. »Ich lass euch mal allein«, sagt sie tonlos, »dann könnt ihr das in Ruhe besprechen.«
Ich gerate in Panik. »Nein, warte«, schreie ich viel zu laut – schließlich ist sie nur anderthalb Meter von mir entfernt –, »da gibt es nichts zu besprechen!« Ich grabsche ihr so heftig den Tellerstapel weg, dass er beinahe zu Boden geht. »Also, ja, ich hatte mal eine Freundin namens Janine. Ist schon eine ganze Weile her«, füge ich mit einem hoffentlich extrem drohenden Blick in Anokis Richtung hinzu. »Also, ich könnte mir denken, dass sie meine Nummer noch gespeichert hat, und jetzt hat sie einfach aus Versehen die SMS an den Falschen geschickt. Das ist mir auch schon mal passiert.« Ich trage das Geschirr in die Küche, hinter Judith her. »Besonders wenn man zwei ähnlich klingende Namen im Adressbuch hat, weißt du? Die stehen ja dann direkt untereinander. Und bei diesen winzigen Tasten kann man so leicht danebendrücken. Passiert dir das nicht auch andauernd?« Scheiße, ich plappere wie ein Vierjähriger. Oder wie jemand, der vor lauter Schuldgefühlen nicht die Klappe halten kann.
Anoki taucht hinter uns in der Küche auf – natürlich mit leeren Händen –, lehnt sich lässig in den Türrahmen und beobachtet uns interessiert.
Judith geht zurück ins Esszimmer und holt weiteres Geschirr. Sie ist zu kurz weg, als dass ich Anoki ein blaues Auge verpassen könnte. Aber die Zeit reicht aus, dass er mich freudig anstrahlt. Dafür schlage ich ihm nachher noch einen Zahn aus, beschließe ich.
»Tja, das wäre möglich«, sagt Judith, als sie erneut mit Geschirr bepackt in die Küche kommt. »Und du kennst sie also auch?«, wendet sie sich an Anoki.
Er zieht die Schultern hoch und wirft mir einen ängstlichen Blick zu, ganz der eingeschüchterte kleine Junge, der schwören musste, nichts zu verraten.
»Vielleicht könntest du mal beim Abräumen helfen«, fauche ich
Weitere Kostenlose Bücher