Herzbesetzer (German Edition)
dir, öfter als einmal pro Woche woanders zu übernachten! Wenn ich rauskriege, dass du nicht gehorchst, komm ich vorbei – und dann gnade dir Gott!«
Anoki bemüht sich, irgendwo ein paar freche, unverschämte Antworten zu platzieren, aber ich lasse ihm keine Gelegenheit dazu.
Nur einen Tag später jault mein Vater am Telefon: »Die Frau vom Jugendamt hat sich angesagt! Die sieht doch sofort, was hier los ist!«
Ich versuche, ihn zu beruhigen. »Das weiß sie schon, ich hab sie angerufen. Wahrscheinlich will sie nur wissen, ob du auch alleine mit Anoki zurechtkommst.«
Wir wissen beide, dass das nicht der Fall ist, deshalb entsteht eine bedeutungsvolle Pause. »Willst du, dass ich bei dem Gespräch dabei bin?«, frage ich schließlich ergeben.
»Wäre wohl besser«, gibt mein Vater resigniert zu. Ich trage mir auch diesen Termin in meinen Kalender ein und seufze abgrundtief. Anoki entwickelt sich zu einer echten Vollzeitbeschäftigung.
76
Am Freitagabend fahre ich nach Neuruppin. Mein Vater öffnet mir die Tür schlecht rasiert, bleich und gebeugt, und Anoki kommt mit merkwürdig leerem Blick statt mit seiner üblichen Euphorie die Treppe runter. Er umarmt mich irgendwie kraftlos. Ich gehe ins Wohnzimmer, wo benutzte Gläser, aufgeschlagene Zeitschriften, ein einzelner Hausschuh, leer gefressene Chipstüten und vier Batterien herumliegen. Die Küche ist aufgeräumt, aber nicht so blitzsauber wie sonst. Im Kühlschrank finde ich hauptsächlich Bier, außerdem eine aufgerissene Folienverpackung mit Schnittkäse, der sich an den Rändern bereits hochbiegt, eine geöffnete Dose Pfirsiche, Margarine, zwei schrumplige Tomaten und eine angebrochene Tüte Nachos (keine Ahnung, wer von den beiden glaubt, die müssten gekühlt werden). Besorgt gehe ich hoch in Anokis Zimmer. Hier finde ich ein buntes Sortiment angebrochener Süßigkeitenpackungen, sorgfältig durchs Zimmer verteilte Schmutzwäsche, überall Münzen, CDs und Tabakkrümel sowie einen überquellenden, zum Aschenbecher umfunktionierten Suppenteller.
»Okay«, sage ich und atme tief durch, »du räumst jetzt hier erst mal auf. Ich komme in einer Stunde wieder hoch und will ein tipptopp sauberes Zimmer vorfinden. Putzmittel, Staubsauger und so weiter findest du im Abstellraum, die Waschmaschine befindet sich im Keller. Noch Fragen?«
Anoki setzt seine bockige Miene auf. »Ich hab Hunger!«, protestiert er. »Ich muss erst was essen!«
Aber ich bleibe hart. »Umso besser, dann beeil dich. Wenn ich dein Zimmer gleich so vorfinde, wie ich mir das vorstelle, gehen wir anschließend was essen. Ansonsten besserst du so lange nach, bis ich zufrieden bin.« Mit diesen Worten lasse ich ihn stehen. Er zetert mir in höchster Erregung irgendwas hinterher, aber ich höre nicht hin und gehe wieder runter zu meinem Vater, der in dem schmuddeligen Wohnzimmer sitzt und den Fernseher laufen lässt.
»Der Kühlschrank ist so gut wie leer«, sage ich. »Was esst ihr denn eigentlich so?« Er wirft mir einen schuldbewussten Blick zu. »Jaja, ich müsste einkaufen«, gesteht er. »Tante Anette kocht für uns mit. Sie bringt mittags immer was rüber.«
»Und Frühstück? Und Abendessen?«, will ich wissen. »Also, wir frühstücken eigentlich beide nicht groß«, behauptet mein Vater. »Und abends … na ja, bis gestern war ja noch was da.«
Ich halte beides für gelogen. Schließlich weiß ich, dass Anoki sehr wohl frühstückt – ich weiß sogar, in welchen unvorstellbaren Mengen. Und außerdem sieht dieser Kühlschrank nicht so aus, als habe er bis vor kurzem noch alle Zutaten für ein gesundes, nahrhaftes Abendessen für zwei Personen enthalten. Mich wundert, dass nicht ein paar verhungerte Kakerlaken dringelegen haben.
»Gut, lass uns gehen«, sage ich. Mein Vater reißt erstaunt die Augen auf. »Wie? Wohin?«
»Na, einkaufen«, erwidere ich ungeduldig. Er rappelt sich mühsam hoch.
Als wir mit dem abenteuerlich hoch beladenen Einkaufswagen, in den ich entweder sehr haltbare oder sehr gesunde Produkte gestapelt habe, endlich die Kasse ansteuern, fängt mein Vater an herumzudrucksen.
»Du, ich glaub, ich hab nicht so viel Bargeld dabei«, raunt er mir zu. »Da müsste ich nachher noch mal zur Bank. Kannst du vielleicht …?« In Gedanken schreibe ich das Geld bereits ab, nicke jedoch tapfer.
»Ja, sicher.« Schließlich geht es um das Überleben meiner nächsten Angehörigen. Trotzdem muss ich ein paar Sekunden lang gegen überwältigendes Selbstmitleid
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