Herzbesetzer (German Edition)
abtupfe. »Er hat sich an sein neues Zuhause gewöhnt, und bei seiner Vorgeschichte wäre es absolut verantwortungslos, ihn wieder abzuschieben.« Dabei werfe ich dem Geschichtslehrer einen hochmütigen Blick zu. »Zumal er ja keine Schuld an der veränderten Lage hat. Was sein Verhalten in der Schule betrifft – ich werde natürlich mit ihm darüber reden und auch entsprechende Konsequenzen ziehen. Allerdings wäre es für die Zukunft sehr wünschenswert, wenn Sie mich zeitnah informieren, damit ich jeweils sofort eingreifen kann. Wissen Sie, jetzt im Nachhinein sind Strafen nicht sehr sinnvoll.«
»Leider liegt keiner dieser Vorfälle länger als zwei Wochen zurück«, erklärt der Direktor mit einem gewissen Mitleid. »Auch wenn es sich aufgrund der Vielzahl vielleicht so anhört.«
Verdammt. Ich versuche, die Kurve zu kriegen. »Na ja, dann lässt sich wohl alles auf Anokis derzeitige Verwirrtheit zurückführen«, sage ich leichthin, »und mittlerweile geht es ihm ja schon wieder besser. Ich kann natürlich nichts versprechen, aber ich bin ziemlich sicher, dass er wieder in die Spur kommt.«
Mir ist ganz schlecht vor Aufregung, als ich aus der Schule rauskomme. Ich glaube, ich hab mich nicht übel geschlagen, aber das war eine der unangenehmsten Situationen meines ganzen Lebens, und ich habe jetzt ein unwiderstehliches Bedürfnis, Anoki übers Knie zu legen und ihm eine gewaltige Tracht Prügel zu verabreichen. Deshalb gehe ich noch zweimal die Wallanlagen rauf und runter, ehe ich ins Auto steige und nach Hause fahre. Er erwartet mich in seinem Zimmer, und zwar in Embryonalstellung auf dem Bett liegend und den Panther fest umklammernd. Ist das Berechnung oder echt? Jedenfalls wirkt es – achtzig Prozent meines Zorns verpuffen bei diesem Anblick. Anoki sagt kein Wort, er guckt mich nur schuldbewusst an. Auch das ist sehr vernünftig von ihm. Ich setze mich auf die Bettkante, stütze seufzend den Kopf in beide Hände und starre wortlos auf den Teppich.
»Eigentlich gehörst du in den Knast«, sage ich schließlich. »Oder wenigstens in ein Heim für schwer Erziehbare. Es gibt ja wohl kaum eine Regel, die du nicht gebrochen hast.«
Anoki ist klug genug, nicht zu argumentieren. So was wie »Die übertreiben doch« oder »Was soll ich denn angeblich gemacht haben?« käme jetzt echt nicht gut an bei mir. Stattdessen sagt er nur: »Ich weiß.«
Und fügt leise hinzu: »Aber die machen mich da alle so wütend!«
Ich drehe mich zu ihm um, betrachte seinen rührend zusammengepressten Schmollmund und seinen bezaubernden düsteren Blick und bin augenblicklich wieder besser gelaunt.
»Mich auch«, gestehe ich grinsend. »Dein Geschichtslehrer ist ja vielleicht eine aufgeblasene Null, Alter.«
Anoki fängt an zu lachen, und die Sonne geht auf. Bin ich eigentlich bis zum Schwachsinn verknallt, oder würde das jeden so kicken? Jedenfalls muss ich ebenfalls lachen, und dieses bescheuerte Elterngespräch kommt mir auf einmal vor wie die lustigste Schote, die ich je erlebt habe.
78
Ich träume sehr oft von Anoki, ich meine – auch im Schlaf. In den meisten Träumen verschmilzt er mit Benjamin, so dass ich hinterher nicht genau sagen kann, wer von beiden mir da eigentlich begegnet ist. Manchmal wechselt die Identität in kurzen Abständen, und manchmal ist sie überhaupt nicht eindeutig. In der Nacht zu Mittwoch habe ich wieder so einen Traum, und er ist scheußlich. Anoki/Benni und ich müssen flüchten, weil Leute unser Haus gekauft haben und jetzt dort einziehen wollen, irgendwelche üblen Gestalten, vor denen wir Angst haben. Wir nehmen nur das Nötigste mit und rennen davon, und die ganze Zeit bin ich mir unsicher, ob mein Vater noch drin ist oder schon weg oder ob er überhaupt noch lebt. Die Typen verfolgen uns, weil sie uns für ein bestialisches Experiment benutzen wollen, so eine Art Tierversuch, und dabei sind sie besonders an Anoki (oder Benni?) interessiert, denn er hat »weißes Fleisch«, wie sie sagen. Ich wache auf, als sich ein mächtiger Metzgerhaken in seinen Rücken bohrt und er an einem Seil von mir weggezerrt wird, und ich bin nass geschwitzt und habe Herzrasen.
Nachmittags brettere ich wieder die A 24 hoch. Diesmal habe ich zwei Stunden vorgearbeitet, um früher gehen zu können. Der Hausbesuch von Frau Paschmann vom Jugendamt steht an, und ich habe kein gutes Gefühl. Zum Glück bin ich rechtzeitig da, um die Reste der gestrigen Fernsehorgie aus dem Wohnzimmer zu entfernen, die
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