Herzbesetzer (German Edition)
so leid.« Er erschlafft in meinem Arm, als er erkennt, dass keine Gefahr von mir ausgeht. »Anoki. Kleiner Tiger. Du brauchst das nicht. Ich weiß, du willst dich am liebsten abschießen. Aber das brauchst du nicht. Wir beide stehen das zusammen durch. Okay? Schnupf mich.«
Er kichert leise und legt vertrauensvoll den Kopf an meine Schulter. Schwer zu beschreiben, was für Gefühle mich dabei durchfluten. Es ist eine Mischung aus unvorstellbar niedrigen Trieben und erhabenster, reiner Liebe. Jedenfalls koste ich die Situation exzessiv aus und halte ihn minutenlang fest, schließlich macht er ja auch keine Anstalten, sich zu befreien. Ich habe den Eindruck, in ihm wühlen ebenfalls allerhand Emotionen, allerdings mit Sicherheit ganz andere – so eingebildet bin ich ja nun auch nicht. Bei ihm dürfte es sich mehr um Traurigkeit, Verlassenheit, Angst und gleichzeitig Hoffnung, Vertrauen und Erleichterung handeln – Letzteres, weil ich ihn nicht verhaue, obwohl er es verdient hätte.
Ich wickele das Tütchen in Klopapier und spüle es in die Kanalisation. Judith wäre bestimmt entsetzt, denn eine ökologisch korrekte Form der Entsorgung ist das höchstwahrscheinlich nicht, und wenn in ein paar Stunden jede Menge durchgeknallte Kanalratten eine Love Parade durch Charlottenburg veranstalten, ist das meine Schuld, aber ich halte es für den sichersten Weg. Simples Verstecken hätte nur Anokis kriminelle Energie wachgekitzelt, und außerdem mag ich so ein Zeug nicht in meiner Wohnung haben – wer weiß, vielleicht wird sie irgendwann durchsucht, weil ich hier des Öfteren einen weltweit gesuchten Terror-Teenie beherberge. Anoki steht neben mir und starrt verzweifelt in die Kloschüssel.
»Wie teuer war das denn?«, frage ich mitleidig.
»Sechzig Tacken, Alter«, sagt er resigniert.
75
Anoki ist wieder zu Hause, und ich komme fast um vor Sorge. Mein Vater hat auf mich eher wie ein migränekranker Zombie gewirkt als wie ein verantwortungsbewusster Erziehungsberechtigter. Und Anokis Augen, als ich mich von ihm verabschiedet habe, waren wie Fenster zur Hölle. Ich telefoniere jeden Abend mit ihm, aber er ist wortkarg, abweisend und mürrisch. Ich rufe auch sehr oft meinen Vater an, der immer dasselbe sagt – »Damit konnte keiner rechnen« – und sich auch darüber hinaus nur in leeren Phrasen ergeht wie »Ist schon traurig alles« oder »Wie soll das bloß weitergehen«. Das macht mich wahnsinnig. Ich würde ihn am liebsten am Kragen packen und schütteln. Früher – vor Benjamins Tod, meine ich – war mein Vater in mancher Hinsicht mein Vorbild. Er war streng, aber gerecht, hat sich viel Zeit für uns genommen, hat uns gerne Dinge erklärt und hat Ansprüche an uns, aber viel mehr noch an sich selbst gestellt. Er war … wie soll ich sagen … straff. Jetzt ist er nur noch schlaff.
Ich habe üble Schlafstörungen, liege stundenlang wach und sorge mich, und wenn ich endlich eingeschlafen bin, werde ich von Alpträumen verfolgt. Aufgrund dessen bin ich tagsüber noch müder als sonst, aber statt mich abends auszuruhen, flüchte ich rastlos aus meiner Wohnung, in der die Gedanken mich foltern, und suche Zerstreuung. Sehr oft fahre ich zu Judith, und wenn sie keine Zeit hat, gehe ich Tom oder Olaf auf den Zeiger, oder ich belästige Annalisa und Silvio. Ein- oder zweimal gehe ich sogar ganz allein in eine Kneipe, aber da sitze ich bloß herum und denke erst recht über meine Ängste nach.
Schon nach ein paar Tagen berichtet mein Vater, er habe eine Vorladung zum Elterngespräch in Anokis Schule bekommen.
»Ich weiß gar nicht, was ich da sagen soll«, jammert er. »Kannst du nicht mitgehen?« Er kann mir nicht mal den Grund für die Vorladung nennen.
Ich beschließe, das allein zu übernehmen, und lasse mir den genauen Termin mitteilen. Dann will ich Anoki sprechen, aber mein Vater gesteht mir kleinlaut, dass der so gut wie gar nicht mehr nach Hause komme.
»Er übernachtet meistens bei Nick.« Bei Nick und seinen völlig asozialen Brüdern? Wie beschissen muss es einem gehen, wenn man freiwillig solche Gesellschaft sucht? Anoki hat mir nichts davon erzählt, vermutlich weil er sich denken konnte, welche Meinung ich dazu habe. Ich wähle seine Handynummer und mache ihn rund. »Es ist mir egal, wie einsam du dich fühlst, du hast deine Nächte zu Hause zu verbringen! Nicht du bestimmst deinen Aufenthaltsort, sondern deine Eltern, und wenn die dazu nicht in der Lage sind, mach ich das eben! Ich verbiete
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