Herzbesetzer (German Edition)
ankämpfen, als ich der Kassiererin einhundertvierundzwanzig Euro und acht Cent bezahle. Geht das ewig so weiter? Muss ich jetzt sogar schon für zwei aufkommen? Unser Haus ist zum Glück abbezahlt, aber wie lange dauert es wohl, bis die Telefon-, Gas-, Strom- und Grundsteuerrechnungen automatisch an meine Adresse umgeleitet werden? Natürlich geht mein Vater weiter arbeiten und verdient sein Geld, aber er hat sich nie um solche Dinge gekümmert, das hat alles meine Mutter erledigt. In seinem derzeitigen Zustand dürfte er hoffnungslos damit überfordert sein, sich in die Finanzmathematik einzuarbeiten. Und Anoki – der kennt mit Sicherheit die aktuellen Schwarzmarktpreise für Rauschgift, Hehlerware und pornografische Schriften, aber ich bezweifle, dass er weiß, wie man eine schlichte Überweisung ausfüllt.
Nachdem wir Kühl- und Vorratsschrank wieder aufgefüllt haben, gehe ich nachschauen, wie weit mein kleiner Putzsklave mit seinen Räumungsarbeiten gekommen ist. Er liegt auf seinem Bett, hört bestialisch laute Musik, raucht und hat nichts weiter getan, als den Müll vom Boden auf den Schreibtisch umzulagern. Ich lasse einen Brüller los und schalte seinen CD-Player ab. Er brüllt zurück und springt auf, um ihn wieder anzuschalten. Wir rempeln, schubsen und hauen uns gegenseitig mit zunehmender Aggressivität. Dann landet seine Faust so wuchtig in meinem Gesicht, dass meine Unterlippe aufplatzt und heftig zu bluten beginnt. Anoki hält sofort inne und starrt mich an.
»Scheiße«, stößt er hervor. »Das wollt ich nicht.« Er eiert auf der Suche nach einem Taschentuch hektisch durch sein Zimmer und findet natürlich keins, weil er ja nicht aufgeräumt hat. Also renne ich rüber ins Bad und will Klopapier nehmen, aber die Rolle ist leer, und Vorrat ist auch keiner mehr da. Ich nehme ein Handtuch, denn inzwischen läuft mir das Blut bereits das Kinn herunter, und ich will mein Hemd retten. Anoki ist mir nachgekommen und steht hilflos neben mir, während ich versuche, die Blutung zu stillen.
»Hey, das hab ich echt nicht gewollt«, wiederholt er. Ich gebe keine Antwort und sehe ihn nicht an – erst muss ich meine Wut in den Griff kriegen, sonst gibt es hier gleich noch eine blutige Fresse. Das macht ihm sichtlich schwer zu schaffen, er zappelt und windet sich neben mir wie ein getretener Wurm und weiß nicht, was er tun soll. Gut so. Er soll leiden. Wer seinen Bruder blutig schlägt, obwohl dieser ihn blind liebt, alles für ihn tut und sich finanziell vollständig ruiniert, der kann gar nicht genug leiden.
Nachdem Anoki kapiert hat, dass ich nicht in der Stimmung bin, mich einwickeln zu lassen, sagt er klugerweise: »Ich räum jetzt fertig auf, okay?«, und zwar mit einem unglaublich niedlichen zaghaften Kinderstimmchen, das mich beinahe wieder weichkocht. Aber nur beinahe. Minuten später höre ich den Staubsauger dröhnen. Eine gute halbe Stunde danach kommt er ins Wohnzimmer geschlichen, wo ich mich erfolglos mit meinem Vater zu unterhalten versuche, und piepst: »Ich bin jetzt fertig. Willst du mal gucken kommen?«
Ich folge ihm schweigend nach oben, mustere mit zusammengezogenen Augenbrauen sein tadellos sauberes Zimmer, gucke auch in den Schrank und unters Bett und finde dort eine verirrte Socke.
»Was ist das da?«, donnere ich.
Anoki fischt sie hastig hervor und haucht: »Oh, die hab ich gar nicht gesehen.« Er kassiert einen vernichtenden, drohenden Blick, ehe ich meine Inspektion fortsetze. »In Ordnung«, sage ich schließlich kurz angebunden, »und beim nächsten Mal gleich so, verstanden?«
Das gemeinsame Abendessen bei Theo’s am Braschplatz bezahle ich natürlich auch. Für alle drei. Jetzt ist es sowieso egal. Und mir war auch klar, dass Anoki dort nicht satt werden und ich ihm hinterher beim Vietnamesen nebenan noch eine große Portion Reis und Hühnerfleisch süß-sauer würde kaufen müssen. Und noch eine Cola dazu, weil man von dem Zeug immer so Durst bekommt. Was soll’s? Ich kann ja meinen Dispokredit erhöhen. Trotzdem ist die Stimmung heute Abend ziemlich mies: mein Vater sitzt nur apathisch herum und sagt kaum etwas, und Anoki sprudelt auch nicht gerade über vor Mitteilsamkeit. Irgendwann sind wir kurz allein, und ich frage ihn, was mit ihm los ist. Zuerst tut er ahnungslos. »Wieso? Was soll denn los sein?«
»Hör auf mit dem Scheiß«, sage ich ungeduldig.
Da rückt er raus mit der Sprache: »Ich hab mich die ganze Woche auf dich gefreut, und dann kommst du rein und
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