Herzbesetzer (German Edition)
alles zu erzählen, was seit unserem letzten Telefongespräch passiert oder ihm durch den Kopf gegangen ist, und ich höre aufmerksam zu: manchmal amüsiert, manchmal gerührt und manchmal auch entsetzt. Gerade habe ich eine Parklücke in annehmbarer Entfernung von meiner Haustür angesteuert, da meldet sich mein Handy. Ich rangiere den Wagen noch ein letztes Mal rückwärts, bis er ordentlich eingeparkt ist, dann fische ich hastig das Telefon aus der Jackentasche. Auf dem Display wird eine mir unbekannte Nummer angezeigt, also melde ich mich förmlich.
»Julian –?«, sagt eine vertraute und dennoch fremde Stimme.
»Mama?!«, sage ich beinahe in derselben Modulation.
Anokis Kopf ruckt herum, und er starrt mich mit riesengroßen Augen an. Langsam zieht er die Beine wieder ins Wageninnere und schließt die Tür.
»Ja …«, erwidert sie zögernd. »Ich wollte mich mal melden.«
Mein Herz macht schmerzhafte, unrhythmische Dehnübungen.
»Tja«, sage ich, »das wird aber auch Zeit. Wir haben uns … relativ viele Gedanken gemacht.«
»Ja, ich weiß«, antwortet meine Mutter, obwohl sie das gar nicht wissen kann . »Ihr seid bestimmt ziemlich wütend. Kann ich auch verstehen. Aber es ging nicht anders. Wenn ich euch vorher Bescheid gesagt hätte, dann wäre alles nur noch schlimmer geworden. Ich hab mir gedacht, so ist es am besten.« Darauf fällt mir nichts ein, und ich schweige. »Bist du noch dran?«, fragt meine Mutter.
»Ja, sicher«, sage ich. »Wo bist du denn jetzt?«
»In Templin«, sagt sie. »Ich wohn jetzt in Templin.«
»Wieso?«, frage ich unsinnigerweise.
»Am ersten Juli fang ich eine neue Arbeit an«, sagt meine Mutter. Was erwartet sie von mir? Soll ich ihr gratulieren? Ich fühle mich grotesk überfordert und werfe einen hilflosen Blick zu Anoki, der erstarrt wirkt.
»Willst du dir meine neue Adresse mal aufschreiben?«, fragt meine Mutter.
Besonders sinnvoll scheint mir das nicht zu sein, ich werde bestimmt nicht da hinfahren. Aber es kann ja auch nicht schaden.
»Warte«, sage ich, »ich bin im Auto – Moment.« Ich krame im Handschuhfach nach einem Kugelschreiber und schnappe mir meinen jüngsten Strafzettel als Notizpapier. Dann lasse ich mir die Adresse und die Handynummer meiner Mutter diktieren, und anschließend frage ich: »Lebst du da alleine?«
»Ja«, sagt sie etwas störrisch. »Ich hab keinen anderen Mann, falls du das meinst.« Genau das meinte ich, ja. Ich beschließe, sie ein bisschen zu quälen. »Anoki sitzt neben mir, willst du mit ihm reden? Er könnte wohl ein paar erklärende Worte gebrauchen.« Wie ich erwartet hatte, schweigt sie einen Moment.
Dann atmet sie tief durch. »Ja, gib ihn mir mal.«
Ich reiche das Handy an meinen wie betäubt wirkenden kleinen Bruder weiter, und er nimmt es entgegen, ohne seine großen runden Augen von mir abzuwenden. Das Gespräch ist sehr kurz. Er sagt bloß »Ja?« und hört einen Moment zu, dann sagt er »Aha« und hört wieder zu. Und dann sagt er: »Ja. Tschüs« und gibt mir das Handy zurück, aber auf dem Display steht nur »Teilnehmer hat aufgelegt«.
Wir sehen uns ratlos an und warten beide darauf, dass der andere irgendwas sagt. Wahrscheinlich ist das mal wieder meine Aufgabe, als der Ältere und so weiter. Aber mir fällt partout nichts ein. Deshalb mache ich das, was ich in solchen Situationen schon öfter gemacht habe: Ich ziehe Anoki an meine Brust und halte ihn einfach fest. Und ja, ich denke, das ist das Richtige.
81
Dieser Anruf hat Anoki ziemlich runtergezogen. Noch Stunden später ist er in sich gekehrt und weit unter seinem gewohnten Energielevel. Das fällt auch Judith auf, und sie spricht mich darauf an, als er nach unserem gemeinsamen Abendessen zur Toilette verschwindet. Ich erkläre ihr, was ihn so aus der Fassung gebracht hat, und dabei merke ich, dass ich ebenfalls sehr aufgewühlt bin. Judith legt sofort tröstend die Hand auf meinen Arm. Es ist unglaublich, wie einfühlsam, verständnisvoll und lieb sie ist. Manchmal kriege ich ein schlechtes Gewissen, weil ich finde, dass ich sie viel leidenschaftlicher lieben müsste.
Sehr viel später, als Anoki und ich müde nach Hause kommen (also jedenfalls ich bin müde), sagt er plötzlich: »Tja. Wenn die keinen anderen hat, ist die ja wohl wegen mir abgehauen.« Obwohl diese Bemerkung keinen erkennbaren Zusammenhang zu allem hat, worüber wir zuvor gesprochen haben, weiß ich genau, wen er meint.
Sofort widerspreche ich vehement, weil ich das
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