Herzbesetzer (German Edition)
mich hier wegzuholen. Wenn Sie mich zwingen, zurück ins Heim zu gehen, bring ich mich um.« So, wie er dabei guckt, glaubt man ihm das bedenkenlos. Die Jugendamt-Tante lässt ein nervöses, gekünsteltes Lachen hören und versucht, sich mit den Worten »Na, nun mach aber mal halblang« aus der Affäre zu ziehen.
Da meldet sich der Untote aus der Ecke und orakelt: »Selbst wenn nicht – im Heim würde er jedenfalls draufgehen«, womit Frau Paschmann endgültig aus der Fassung gebracht ist. Sie klappt die Akte zu und fragt mich: »Wer kümmert sich denn hier um den Haushalt?«
Na also, geht doch. Jetzt kommen wir zum praktischen Teil. Ich erkläre ihr, dass meine Tante Anette das kommissarisch übernommen hat und täglich für eine gesunde warme Mahlzeit sorgt. Ich mache ihr klar, dass Anoki allem Augenschein zum Trotz in der Lage ist, eine Waschmaschine, einen Geschirrspüler und einen Staubsauger zu bedienen. Außerdem setze ich sie davon in Kenntnis, dass mein Vater nach wie vor einer geregelten beruflichen Tätigkeit nachgeht, dass Anoki seine Schulpflicht wahrnimmt (kleine Lügen werden ja wohl erlaubt sein), und zuletzt bringe ich noch voller Bescheidenheit das Gespräch auf meine diversen Anteile an Anokis moralischem Gedeihen.
Als sie weg ist, haben wir alle drei das Gefühl, ein schreckliches, feuerspeiendes Ungeheuer erfolgreich verjagt zu haben. Sogar mein Vater erlaubt sich ein erleichtertes Grinsen. Anoki wartet kaum, bis sich die Tür hinter ihr geschlossen hat, dann umarmt er mich auf seine im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Art und küsst mich schmatzend auf beide Wangen. Das hat er noch nie gemacht. Mir wird schwindlig davon.
»Du bist sooo cool«, schmeichelt er mir ungeniert. »Du hast die echt total eingemacht.«
»Ach was«, winke ich verlegen ab, aber Anoki lockert seine Umklammerung kein bisschen, obwohl ich vermutlich bereits blau anlaufe. »Doch, klar, ey, du bist mein Lebensretter!«
Na gut, wenn das so ist – dann kann ich ja mal ein paar Sekunden meine Nase in seine Dreadlocks graben, die Augen schließen und seine Umarmung erwidern. Und ihn beinahe so fest halten wie er mich. Und mir wünschen, dass dieser Moment nie zu Ende geht.
79
Ich bleibe über Nacht in Neuruppin – weil Anoki darum bettelt, weil ich mich ohnehin zu müde fühle, um noch zurückzufahren, und weil ich mit ihm reden will. (Und weil ich mich nicht von ihm losreißen kann.) Es ist ein herrlicher, warmer Frühsommerabend. Wir gehen runter zur Badestelle, die sich nach und nach leert, bis wir die Einzigen sind, die den Mücken noch trotzen. Anoki tobt im Wasser herum. Es geht ihm immer deutlich besser, wenn er sich körperlich verausgaben kann, und als er sich irgendwann außer Atem neben mir auf die Decke fallen lässt, wodurch ich aus einem meiner Kurznickerchen hochschrecke, sieht er glücklich aus – und wunderschön. Selbstverständlich lässt er es sich nicht nehmen, seine tropfnassen Wollhaare über mir auszuschütteln, so was findet er unglaublich lustig. Hätte ich mit vierzehn wahrscheinlich auch lustig gefunden.
»Ich hab tierischen Hunger«, erklärt er dann. Damit habe ich gerechnet und vorsorglich eine Tüte mit Laugenstangen eingepackt, die ich mir in meiner Mittagspause gekauft hatte und zu deren Verzehr ich bisher nicht gekommen bin. Wir teilen sie brüderlich, das heißt, er isst zweieinhalb und ich eine halbe. »Du bist ja schon alt, du brauchst nicht mehr so viel Nahrung«, nuschelt Anoki mit vollem Mund und weicht meinem Hieb routiniert aus.
Ich sehe ihm lange zu, wie er isst, wie er sich danach genüsslich auf der Decke ausstreckt, mit hinter dem Kopf verschränkten Armen in den Himmel hochblickt, wie die Wassertropfen auf seiner Haut allmählich trocknen. Er ist längst nicht mehr so mager wie im Dezember, als er zu uns kam. Mittlerweile hat er einen wirklich perfekten Körper, schlank, durchtrainiert und glatt. Irgendwann wendet er mir sein entspanntes Gesicht zu und lächelt mich an.
»Was guckst du so?«, fragt er neugierig.
»Nur so«, antworte ich, »wie man halt guckt als vertrockneter alter Pädophiler.« Er streckt die Hand aus und streichelt liebevoll meine Wange.
»Du Armer«, sagt er voller Mitgefühl. »Muss ’n Scheißgefühl sein, wenn man nicht mehr mitmischen kann.«
Ich verenge warnend meine Augen. »Manchmal kann ich noch«, erkläre ich, »zum Beispiel wenn man mich allzu sehr reizt.«
Er lacht nur und lässt seine vom Schwimmen kalten
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