Herzbesetzer (German Edition)
Finger weiter zart über mein Gesicht wandern.
Ich würde sagen, es ist allerhöchste Zeit, das Thema zu wechseln. Ich setze mich aufrecht hin, um mich aus der Gefahrenzone seiner Zärtlichkeiten zu bringen, und sage: »Wir müssen das noch besser in den Griff kriegen. Die Wohnung sieht unordentlich und schmuddelig aus. Das geht so nicht.«
Es scheint, dass Anoki leicht enttäuscht ist über den Verlauf dieser Unterhaltung. »Dann lass doch ’ne Putzfrau kommen«, schlägt er mit der für seinesgleichen symptomatischen Realitätsferne vor. Oder ist es Unverschämtheit? Oder beides?
»Wenn du sie bezahlst«, erwidere ich, und ich hätte wetten können, dass er das Folgende antwortet: »Ich?! Wieso ich?«
Zwecklos, ihm zu erklären, dass er der Hauptverursacher von Dreck und Unordnung in unserem Haus ist. Stattdessen gebe ich ihm eine detaillierte Dienstanweisung, die – so hoffe ich – sämtliche anfallenden Haushaltsarbeiten und die notwendige Häufigkeit ihrer Durchführung enthält. Anoki hört sich das mit zunehmend ungläubigem Gesichtsausdruck an. Irgendwann fängt er an zu grinsen. Er hält das für einen gelungenen Witz. »Echt abgefahren, Alter«, sagt er. »Du bringst das voll überzeugend.«
»So, und jetzt zum Thema Schule«, leite ich zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung über. »Da gibt es ab sofort ebenfalls keine Kompromisse mehr. Du hast deinen Kredit wirklich bis über die Grenzen hinaus abgeschöpft. Wenn du dir noch eine einzige patzige Antwort erlaubst, fliegst du.« Ich habe nicht erwartet, dass diese Drohung für Anoki auch nur den geringsten Schrecken birgt – eher im Gegenteil. Und ich habe mich nicht getäuscht.
»Dann geh ich in Berlin zur Schule«, sagt er sofort, denn das scheint der Plan zu sein, den er sich zurechtgelegt hat: bei mir einziehen und in Berlin so richtig die Sau rauslassen. Wo man an die viel geileren Drogen rankommt und die Mitschüler viel cooler drauf sind und die Lehrer bereits so eingeschüchtert, dass sie nicht mehr viel sagen. Und falls doch mal was schiefläuft, hat er ja seinen großen Bruder griffbereit, der haut ihn schon wieder raus.
Zum Schluss versuche ich noch, mit ihm über meinen Vater zu reden. Überraschenderweise gibt er jetzt eine ziemlich hellsichtige Einschätzung der Dinge ab, die mir beweist, dass er doch in der Lage ist, die Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen, auch wenn sonst nicht viel darauf hindeutet.
»Der ist total fertig«, sagt Anoki. »Der kommt damit nicht klar, dass Petra abgehauen ist. Manchmal glaub ich, der ist von uns allen dreien das hilfloseste Kind.«
»Trinkt er?«, frage ich ängstlich. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob ich die Wahrheit wissen will.
»Ja, schon«, sagt Anoki. »Nicht so doll viel, aber jeden Tag. Und vor allen Dingen schon nachmittags. Sobald der von der Arbeit kommt, zischt der sein erstes Bierchen. Davon wird der dann total früh müde; um neun geht der meistens schon ins Bett.«
»Und was machst du dann?«, frage ich beunruhigt.
Anoki zuckt die Schultern. »Ich darf ja nicht mehr weg, hast du gesagt. Spiel meistens am Computer rum. Oder an mir.« Er kichert erfreut, als er meine schlagartig erweiterten Pupillen bemerkt.
»Willst du damit sagen«, ächze ich, mühsam um Sachlichkeit ringend, »dass du meinen Anweisungen Folge leistest, obwohl ich nicht da bin, um das zu kontrollieren?«
Er dreht die Augen nach oben, als müsse er sich angestrengt an etwas erinnern. »Ähm … hast du echt gesagt, ich soll mir einen runterholen? Tja, also, dann ist das wohl so. Heute bist du ja da, da kannst du das ja überprüfen.«
»So, jetzt noch mal seriös«, sage ich, nachdem ich mich wieder gefangen und sämtliche Fantasien unterdrückt habe, »bist du die letzten Tage wirklich nachts zu Hause geblieben?«
Anoki sieht mich gekränkt an. »Ja sicher! Hast du doch gesagt!« Natürlich hab ich das gesagt – aber seit wann gehorcht er mir denn?
»Oh. Das ist … wirklich toll«, erwidere ich gerührt.
»Ich mach doch immer alles, was du sagst«, grummelt Anoki. »Müsstest du doch langsam wissen.«
Einen Moment lang überlege ich, ob wir vielleicht in parallelen Welten leben, aber dann wird mir bewusst, dass er gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist. Wenn ich es mir recht überlege, hab ich ihn eigentlich ganz gut im Griff. Ich erinnere mich an seine resignierte Folgsamkeit, als wir das Kokain ins Klo geworfen haben, und an seine Bemühungen, Judith und Una gegenüber freundlich zu
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