Herzbesetzer (German Edition)
für meine Pflicht halte. Anoki lässt mich ausreden, aber die Art, wie er dabei zur Seite guckt, beweist, dass er mir kein Wort glaubt. Und es ist ja auch nicht einfach, seine Behauptung mit logischen Argumenten zu widerlegen. Ich verstumme mitten im Satz und lasse mich kraftlos aufs Sofa plumpsen.
»Lass mal gut sein«, sagt Anoki und zieht sich das T-Shirt über den Kopf. »Glaubst du, ich kann damit nicht leben oder was?«
»Vielleicht«, sage ich ehrlich.
Aber er schnaubt nur und öffnet seinen Nietengürtel. »So’n Weichei bin ich nicht«, erklärt er. »Dann wär ich schon längst von der Brücke gesprungen.« Eine überzeugende Beweisführung, finde ich. Aber trotzdem spüre ich stellvertretend für Anoki den hoffnungslosen Schmerz des Verlassenwerdens durch meine Gedärme fräsen, und ich kann nicht glauben, dass ihn das weniger berührt.
Trotz meiner Müdigkeit kann ich nicht einschlafen, und ich spüre, dass es Anoki genauso geht. Er wälzt sich hin und her. Mein Zorn auf meine Mutter wächst mit jeder Sekunde, in der ich ihn leiden sehe. Irgendwann steht er wieder auf und schleicht sich ins Bad, vermutlich in der Annahme, dass ich längst schlafe. Ich höre ihn da herumklappern und werde misstrauisch. Das hört sich nicht an, als wenn er einfach nur pinkelt. Mehr als ob er irgendwas sucht. Kurzentschlossen gehe ich hinterher, klopfe an die Tür und rufe: »Alles okay bei dir?« Er öffnet und guckt durch den Spalt.
»Kannst ruhig reinkommen, alter Spanner«, flachst er.
Ich folge ihm ins Bad. »Hast du was gesucht?«, frage ich.
»Ja«, sagt er, »deine Zauberpillen. Ich kann nicht schlafen.«
»Anoki!«, rufe ich entsetzt. »Die kannst du doch nicht einfach so nehmen! Die sind verschreibungspflichtig! Und ich hab dir schon tausendmal gesagt, du sollst die Finger davon lassen!«
»Mann, jetzt komm mal klar«, erwidert er gelangweilt und öffnet den Schrank über meinem Waschbecken. »Wo hast du die denn?«
Hallo? Rede ich zu leise oder was? »Die kriegst du nicht!«, sage ich überaus laut und betont.
»Warum denn nicht?«, fragt Anoki und sieht mich ehrlich erstaunt an. »Du nimmst die doch auch dauernd!«
Und ich hab extra darauf geachtet, dass er es so selten wie möglich mitbekommt. Ich geb mir doch alle Mühe, ihm ein Vorbild zu sein, ihm genau die richtige Menge von Zuneigung und Strenge zu vermitteln, ihn an der langen Leine zu lassen, damit er selbstständig wird, ihm trotzdem klare Grenzen zu setzen, Verständnis für all seine wirren Ideen und Gedankensprünge aufzubringen, ihm bestimmte allgemeingültige Ideale vorzuleben … das ganze Programm. Und trotzdem bringt er mich immer wieder so ganz lässig und nebenbei an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Zum Beispiel jetzt. Ich kriege einen Anfall von Selbstmitleid und fühle mich komplett überfordert. Niemand hat mich darauf vorbereitet, mit vierundzwanzig ganz allein einen Teenager zu erziehen.
Man kann Anoki ja manches vorwerfen, aber unsensibel ist er nicht. Er merkt sofort, dass ich nicht mit meiner üblichen Mischung aus plakativer Strenge, feiner Ironie und sorgfältig unterdrückter zitternder Liebe reagiere, und sieht mich besorgt an.
»Oder hast du nicht mehr genug?«, rät er. In meiner pädagogischen Notlage greife ich nach diesem Strohhalm, obwohl ich erst vorgestern eine neue Packung Tabletten aus der Apotheke geholt habe. »Ja. Also, das heißt … ja. Genau.«
Natürlich merkt Anoki, dass ich lüge, aber er kann unglaublich fair sein. Nur sein verschwörerisches Lächeln verrät, dass er mich durchschaut. »Ach so, na ja. Ähm, hast du denn vielleicht noch was anderes? Valium oder Librium oder so?«
Ganz allmählich gewinne ich meine innere Stärke zurück. »Schätzchen«, sage ich mit einem lediglich minimal zittrigen Seufzer, »für deine Altersklasse hab ich nur Milch mit Honig.« Meistens sind solche Bemerkungen Auslöser für eine kleine Kostprobe von Anokis neusten Karatehieben, aber heute zuckt er bloß mit den Schultern.
»Na gut, Opa. Dann mach mal.« Ich achte darauf, dass er vor mir das Bad verlässt, damit er nicht länger meine Schränke durchwühlen kann, und stelle uns zwei Becher Milch in die Mikrowelle, die wir dann mitsamt dem eingerührten Löffel Honig im Bett schlürfen wie ein uraltes Ehepaar.
Anoki ist anlehnungsbedürftig. Nachdem er seinen Becher geleert hat, nimmt er mir auch meinen weg, obwohl er noch halb voll ist, löscht das Licht und kuschelt sich zielstrebig an mich.
»Ich
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