Herzbesetzer (German Edition)
sein, und an viele andere Kleinigkeiten. Komisch, dass solche Dinge immer untergehen und man sich meistens nur an die anderen Gelegenheiten erinnert, bei denen er frech, ungehorsam oder aufsässig war. Ziemlich unfair eigentlich.
»Stimmt«, sage ich. »Du hast recht.« Weil er immer noch ein bisschen beleidigt aussieht, ziehe ich ihn an mich – etwas, womit man Anoki stets besänftigen kann. Dieses arme, hungrige Geschöpfchen ist so dankbar für jede Art von Zuneigung! Ich wünschte nur, ich könnte ihn ein einziges Mal im Arm halten ohne diese grundverdorbenen Nebengedanken.
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Ich habe einfach keine Lust, am Freitag schon wieder nach Neuruppin zu fahren. Außerdem bin ich erschöpft, denn das war wirklich eine anstrengende Woche. Deshalb vereinbare ich mit Anoki, dass er nach der Schule nach Berlin kommt, was ihm sowieso viel lieber ist, und sogar meinem Vater tue ich damit einen Gefallen, der kann jetzt nämlich die Möglichkeit wahrnehmen, mit seinem Schwager zum Angeln an die Müritz zu fahren, ohne sich um Anoki Gedanken machen zu müssen. Eine klassische Win-win-win-Situation sozusagen.
Wie gewöhnlich hole ich Anoki am Bahnhof ab. Als wir einander auf dem langen Perron entgegeneilen, fällt mir auf, dass er sich verändert hat. Er scheint ein bisschen gewachsen zu sein, und sein Gang ist selbstbewusster und zielstrebiger geworden. Von weitem würde er auch für siebzehn, achtzehn durchgehen. Erst wenn man ihm direkt gegenübersteht und sein noch kindlich weiches Gesicht sieht, korrigiert man die Schätzung nach unten. Ein paar Leute gucken komisch, als wir uns in die Arme fallen: Ich bin zu jung, um sein Vater zu sein, und er ist zu alt, um in der Öffentlichkeit geknuddelt zu werden. Hinzu kommt der offensichtliche Gegensatz zwischen einem lang- und wirrhaarigen Anarchisten mit löchrigen Turnschuhen und einem halbwegs etablierten, unauffällig-sportlich gekleideten Soziologiestudenten (für einen solchen hat Judith mich jedenfalls bei unserer ersten Begegnung gehalten). Was denken die wohl über uns? Ganz bestimmt kommt niemand auf die Idee, dass wir Brüder sein könnten. Brüder sollten sich wenigstens ansatzweise ähneln und einander nicht derart euphorisch begrüßen. Übrigens ist das nur eine flüchtige Überlegung, denn Anokis geballte Präsenz erlaubt mir keine weiteren Gedanken über irgendetwas anderes als ihn.
Nachdem er meine Sauerstoffversorgung wieder freigegeben hat, sagt er das, was er bis zu zehnmal täglich sagt: »Ich hab saumäßigen Hunger.«
Manchmal glaube ich, dass allein mein Anblick ihn schon hungrig macht (was umgekehrt genauso gilt, allerdings auf einer ganz anderen Ebene). Für Anoki bin ich wohl so eine Art Pawlow’scher Schlüsselreiz: Julian = Pizza. Na ja, es könnte schlimmer sein. Ich kaufe ihm ein Stück Salamipizza, zwei Laugenbrezel und ein gigantisches Schinken-Käse-Baguette zum Mitnehmen, um den gröbsten Speichelfluss einzudämmen, denn für heute Abend habe ich Judith und Una zum Essen eingeladen. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens fresse ich mich seit Wochen bei Judith durch und habe deswegen ein zunehmend schlechtes Gewissen, das ich auf diese Weise erleichtern möchte. Und zweitens halte ich das für eine günstige Gelegenheit, Anoki mit ihr zusammenzubringen, als Vorbereitung auf den Urlaub sozusagen. Wir haben jetzt gebucht, und ich konnte mich mit meinem Italien-Wunsch durchsetzen. Zwei Wochen in einem Vier-Sterne-Hotel mit Pool und zahlreichen Sportangeboten, mit Kinderclub und All-inclusive-Büfett, landschaftlich reizvoll und direkt am Meer gelegen – das sollte alle unsere Bedürfnisse abdecken. Was Anoki noch nicht weiß: dass er sich ein Zimmer mit Una wird teilen müssen. Es hat natürlich separate Betten, darauf habe ich geachtet, aber ich denke, er wird mir auch so die Hölle heißmachen. Bis dahin freue ich mich trotzdem auf die Reise.
Als wir mein Auto auf Parkdeck B erreicht haben, ist von Anokis Imbiss nichts mehr übrig, und ich muss ihm mit viel Geduld klarmachen, dass wir bereits in zwei Stunden wieder vor gefüllten Tellern sitzen werden. Er kann sich nicht vorstellen, dass er so lange ohne weitere Nahrung überlebt, und die Aussicht auf einen Abend mit Judith und Una versetzt ihn auch nicht gerade in emotionalen Überschwang, aber zumindest bockt er nicht rum. Ich glaube – in aller Bescheidenheit –, dafür ist er viel zu froh, bei mir zu sein. Wie gewöhnlich braucht er keine besondere Aufforderung, um mir restlos
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