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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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aktiv werde, wenn er achtzehn ist. Was er bis dahin macht, ist ein anderes Thema – also, ich werde sicher nicht schreiend vor ihm davonlaufen, falls er mal einen Schritt in meine Richtung macht … Aber ich bleibe standhaft. Jawoll. Der Lohn für meine zwanghafte Selbstkasteiung ist, dass Anoki mir deutlich dankbar ist und dass unser Verhältnis unbelastet bleibt. Wir machen am nächsten Morgen einfach da weiter, wo wir vor meinem peinlichen Kussversuch aufgehört hatten, und sind beide erleichtert, dass der andere nicht darauf rumreitet. Es könnte auch ein Traum gewesen sein oder eine bizarre Halluzination, ausgelöst durch Anokis Shit. Ich habe nie meine Lippen auf die meines allzu bereitwilligen Bruders gelegt, und er hat mir nie gestanden, dass er hin- und hergerissen ist. So was würden wir nie tun.
    Wir haben ganz andere Sorgen, zum Beispiel: Wo kriegen wir was fürs Frühstück her? Im Kühlschrank ist nur der abgemagerte Jim Beam, und Anokis Magen knurrt unüberhörbar. Wie gewöhnlich erweist er sich als pragmatisch, gut gelaunt und unkompliziert.
    »Ich komm gleich wieder«, zwitschert er, und schon ist er weg. Keine Ahnung, mit welchem Ziel, aber einer inneren Stimme folgend decke ich den Tisch. Eine halbe Stunde später kehrt er mit zwei schweren Einkaufstüten zurück, die so unverzichtbare Grundnahrungsmittel wie Räucherlachs, Walnusskäse, Serranoschinken, Orangenbuttermilch und Zimtschnecken enthalten. Kaum hat Anoki einen angemessenen Grad der Sättigung erreicht, wischt er sich die Finger an der Hose ab und holt das Textbuch für seine Theateraufführung hervor.
    »Nur noch drei Wochen«, erklärt er. »Ich muss üben.« Und er vertieft sich unverzüglich in seine Rolle, was mir die Aufgabe zufallen lässt, den Tisch abzuräumen. Da er auch danach noch nicht ansprechbar ist, habe ich die Gelegenheit, alle Haushaltspflichten zu erledigen, die sich während einer Arbeitswoche ansammeln.
    Ab und zu werde ich unterbrochen, weil Anoki mir ein paar Textzeilen vorliest und mich nach meiner Meinung fragt. »Würdest du das so sagen? Findest du nicht, das hört sich irgendwie bekloppt an?« Ich nehme mir die Zeit, darüber nachzudenken, und versuche, eine möglichst qualifizierte Stellungnahme abzugeben. Meistens sind wir uns einig. Es gibt ein paar Passagen in diesem Theaterstück, die etwas hölzern klingen – so redet kein Mensch, besonders keiner unter achtzehn. Anoki hat ein feines Gespür für diese Stellen, wahrscheinlich weil er seine Rolle nicht spielt , sondern regelrecht lebt . Seine Kritik erstreckt sich auch auf die Regieanweisungen. »Wieso soll ich mich da umdrehen? Das ist doch Schwachsinn. Wenn meiner Schwester irgendwas Komisches passiert, guck ich doch erst recht hin, oder? Ich bin doch kein Jammerlappen, sondern ich will die beschützen.«
    Nach anderthalb Stunden klappt er das Textbuch zu und seufzt. »Alter, ich kann nicht mehr«, sagt er kraftlos. »Ich muss jetzt mal irgendwas Vernünftiges machen.«
    Zunächst bin ich irritiert, bis ich begriffen habe, dass »vernünftig« für ihn heißt: etwas, bei dem er sich körperlich verausgaben kann. Im Gegensatz zu geistiger Anstrengung, die offenbar das genaue Gegenteil bedeutet. Nachdem ich diese eigentümliche Logik erkannt habe – wenn ich auch weit davon entfernt bin, sie zu verstehen –, leihe ich ihm meine Inliner, hole mein Fahrrad aus dem Keller und fahre mit ihm zum Teufelsberg.
    Er will ihn natürlich besteigen, na gut, meinetwegen. Ich kette mein Rad an einen Baum, er zieht die Inline-Skates aus, und wir marschieren hoch. Oben wandern wir ein bisschen herum, genießen die Aussicht, schauen den Drachenfliegern zu und lassen uns den Wind durch die Haare wehen.
    Dann sagt Anoki: »So, ich fahr jetzt runter.«
    Ich reiße die Augen auf. »Was? Nein! Bist du wahnsinnig? Auf gar keinen Fall!«
    Anoki lächelt wohlwollend und schnallt sich die Inliner an. »Jetzt bleib mal ganz geschmeidig. Da kann nichts passieren. Guck mal, wie breit der Weg ist, und gepflastert ist der auch.«
    »Ja, breit! Gepflastert! Und steil wie die Hölle! Du bist ja irre! Wenn du da auf die Schnauze fällst, bist du tot! Mindestens!«, japse ich panisch.
    Anoki winkt mir über die Schulter zu und saust los, ohne dass ich es verhindern kann. Ich renne halb wahnsinnig vor Sorge hinter ihm her, was völlig sinnlos ist, weil er nach wenigen Sekunden aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Der Weg nach unten windet sich wie ein Wurm mit Verdauungsstörungen.

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