Herzbesetzer (German Edition)
Tatsache, dass Judith und ich uns für einen Kinofilm entscheiden, von dem er nicht mal den Titel versteht, so einen richtig gnadenlos intellektuellen, der im Feuilleton der ZEIT absolute Bestnoten bekommen hat. Tapfer ignorieren wir Anokis wilde Proteste. Die erste halbe Stunde rutscht er auf seinem Platz hin und her und stopft sich hektisch Popcorn in den Mund, dann lassen seine Aktivitäten schlagartig nach, sein Kopf sinkt an meine Schulter, und er schläft ein. Ich vergehe fast vor Liebe. Sechzig Minuten lang mache ich keine Bewegung, um ihn nicht zu stören, außer dass ich vorsichtig Judiths Hand streichele.
90
Wir sind erst gegen Mitternacht zu Hause, aber Anoki ist nach seinem Kinoschläfchen topfit und holt den Whisky aus dem Kühlschrank wie einen lang vermissten Freund. Eine Flasche Cola zum Mixen findet sich auch. Gebieterisch drückt er mir ein randvolles Glas in die Hand. »Das war ’n totaler Scheißfilm«, sagt er, während ich mich gehorsam neben ihm auf die Couch setze, »nächstes Mal kannst du alleine gehen.«
»Danke«, erwidere ich. »Sehr großzügig von dir.«
»Oder du suchst was Vernünftiges aus«, fügt er rasch hinzu.
Ich grinse in mich hinein. Es gefällt mir, dass Anoki mal die zweite Geige spielen musste. Bisher ist es ihm immer gelungen, das zu umgehen. Er baut einen großzügigen Joint und überlässt mir die ersten Züge. Verdammt, woher hat er dieses Zeug? Das zieht einem ja die Schuhe aus! Ich muss grundlos kichern und werde dann ebenso grundlos schwermütig.
»Als du da an der Raststätte gestanden hast«, fange ich an – denn das ist ein Thema, das besonders gut zu Schwermut passt –, »hast du da eigentlich geheult?«
Anoki nimmt einen tiefen Zug von seiner Tüte. »Nee«, sagt er dann. »Ich dachte doch, die kommen gleich wieder. Ich hab echt immer gedacht, die kommen jeden Moment zurück.« Er sieht dem Rauch hinterher, der sich träge zur Decke ringelt. »Sogar als die Bullen gekommen sind. Und wo ich da auf der Wache war. Ich war total ruhig. Die ganze Zeit hab ich gedacht: Jetzt kommen die gleich und holen mich hier raus.«
Ehrlich gesagt macht mich das völlig fertig. Im Gegensatz zu dem kleinen verlassenen Anokikind kämpfe ich mit den Tränen.
»Auch noch wie ich da in das Heim kam und die mir mein Zimmer gezeigt haben. Und mir Bettzeug gegeben haben und Handtücher. Ich hab nur gedacht, ey, sind die noch dicht? Was soll ich denn mit dem Scheiß? Ich bleib doch hier nicht über Nacht!«
»Hör auf«, flüstere ich. »Hör auf, das halt ich nicht aus.«
Anoki sieht mich an und sagt leise: »Hey! Ist doch alles schon ganz lange her.« Er umarmt mich tröstend, was ich als paradox, aber trotzdem wohltuend empfinde. Ich drücke mein Gesicht in seine Haare und inhaliere seinen vertrauten, geliebten, unvergleichlich wunderbaren Duft.
»Ich lass dich nie allein«, schwöre ich ihm ebenso feierlich wie bekifft. »Nie, nie, nie. Ich bleib immer bei dir. Egal was passiert. Ich würd alles für dich tun. Ich würd für dich sterben.« Mir ist bewusst, dass das pathetisch und kitschig ist, aber ich habe noch nie etwas so ernst gemeint.
Anoki lächelt von ganz tief innen heraus und sagt: »Du sollst aber nicht sterben. Ich will lieber, dass du lebst. Mit mir natürlich.«
Das Schlimme ist, dass Anoki mir fast nie meine Grenzen aufzeigt – so wie ich das bei ihm mehrmals täglich mache. Das ist unfair. Er müsste doch ab und zu mal energisch werden und mich wegschubsen oder mir sagen, dass ich ekelhaft aufdringlich bin und dass er nichts von mir will und dass ich meine Finger bei mir behalten soll, oder? Das wäre enorm hilfreich. Stattdessen guckt er mich nur immer so zärtlich an und lächelt wissend und streichelt meine Schulter, was mich noch mehr verwirrt. Ich sehne mich nach einer schallenden Ohrfeige oder einem kräftigen Ellbogenhieb in die Rippen, damit ich wieder klar im Kopf werde und weiß, was ich zu tun – oder besser gesagt: zu lassen – habe. Was soll ich denn noch machen, damit er endlich das Stoppschild hochhält? Soll ich ihn küssen oder was?
Es wäre einen Versuch wert. Es wäre unendlich verlockend. Nur mal ausprobieren, wie es sich anfühlt. Wie weich seine Lippen sind. Ich schließe die Augen und nähere mich ihm millimeterweise. Ich berühre seine Lippen mit meinen, und sie fühlen sich noch viel zarter und weicher an, als ich erwartet hatte. Er schmeckt nach Tabak, nach Alkohol und, ich weiß nicht, nach Liebe oder so was.
Anoki
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