Herzbesetzer (German Edition)
runter! Du blöder Penner!«
»Da war ich wohl gerade pinkeln«, sagt Anoki schuldbewusst. »Wusst ich doch nicht! Tut mir leid!« Er macht einen unbeholfenen Versuch, mich zu umarmen, aber ich stoße ihn zornig zurück. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, schwinge ich mich aufs Fahrrad und trete den Heimweg an. Anoki muss sich erst die Inliner wieder anziehen. Nach ein paar Minuten taucht er hinter mir auf.
»Warte doch mal!«, ruft er von weitem. Ich denk ja gar nicht dran. Schade, dass ich immer noch diese Gänsedaunenfüllung in den Beinen habe, sonst würde ich ihm jetzt davonfahren. Stattdessen holt er mich ein und hängt sich an den Gepäckständer. Ich ziehe ruckartig beide Handbremsen, wodurch er nach vorne geschleudert wird und mit einem halben Überschlag auf der Erde landet. Das knallt richtig. Hoffentlich hat es ordentlich wehgetan.
Ähm … Warum steht er nicht mehr auf? Etwas Heißes zuckt durch meinen Körper, und ich lasse das Fahrrad achtlos zu Boden fallen, um zu meinem regungslosen Bruder zu eilen.
»Anoki? Alles okay?«
Er liegt ganz verkrümmt auf dem Radweg. »Anoki!«, schreie ich.
Langsam öffnet er die Augen und hebt die Hand zu seinem Hinterkopf.
»Was ist los? Tut dir der Kopf weh? Bist du auf den Kopf gefallen?«
Anoki nickt langsam. Ich ziehe ihn in eine sitzende Position und sehe mir die Stelle an, die er betastet, aber es ist nichts zu erkennen außer einer Flut schwarzer Wollschlangen, in denen sich ein paar Laubschnipsel verfangen haben.
»Kannst du aufstehen?«, frage ich besorgt.
Anoki hebt matt die Schultern. Ich helfe ihm auf die Beine.
»Wieso hast du denn so plötzlich gebremst?«, fragt er, und es klingt mehr Schmerz darin mit als Vorwurf.
»Weil ich stinksauer war«, sage ich reuevoll. »Tut mir leid. Das war Scheiße. Das hab ich nicht gewollt. Geht’s wieder?«
Er scheint ein bisschen wacklig auf seinen Rollen zu stehen. Was ist, wenn er eine Gehirnerschütterung hat? Ich bin ja so ein Vollidiot! Erst krepiere ich fast vor Sorge, dass er gestürzt sein könnte – und dann verursache ich den Unfall selbst, aktiv und vorsätzlich! Mann, bin ich bescheuert.
Ich hebe mein Rad auf und sage: »Setz dich hintendrauf. Und halt dich gut an mir fest.« Erstaunlicherweise gehorcht er sofort, was mich noch mehr ängstigt. Sonst lässt er sich doch keine Gelegenheit entgehen, sich richtig auszupowern – wenn er so bereitwillig Hilfe annimmt, muss es ihm wirklich schlecht gehen! Und er macht nicht die kleinste anzügliche Bemerkung, als er seine Arme um meine Taille legt! Das kann nur eine Gehirnerschütterung sein. Oder ein Schädelbruch, was weiß ich. Trotz des zusätzlichen Gewichts auf meinem Fahrrad trete ich in die Pedale wie ein Irrer.
92
Anoki ist sehr still. Ich bette ihn auf die Couch, gehe wieder mal vor ihm auf die Knie – diesmal, um ihm die Inline-Skater auszuziehen –, hole ein weiteres Kissen, das ich ihm vorsichtig unter den Kopf schiebe, und bringe ihm ein Glas Wasser.
»Jetzt lass mich noch mal gucken«, sage ich und drehe ihn behutsam auf die Seite, um mir seinen Hinterkopf anzusehen. Ich schiebe so lange Filzsträhnen beiseite, bis ich die Kopfhaut durchschimmern sehe. Da ist tatsächlich Blut, allerdings nicht viel.
»Tut’s noch weh?«, frage ich.
»Irgendwie schon«, erwidert Anoki. Dann erkundigt er sich: »Warum warst du denn so tierisch sauer?«
Ich hole tief Luft. »Erstens«, beginne ich, »weil du nicht gehört hast. Du bist einfach runtergefahren, obwohl ich es dir verboten habe.«
»War aber ’ne total geile Schussfahrt«, sagt Anoki mit dem Ansatz eines schwärmerischen Lächelns. »Da kriegst du vielleicht Tempo, Scheiße, ey!«
»Zweitens weil du unten nirgendwo zu sehen warst und ich mir Sorgen gemacht hab«, fahre ich fort. »Drittens weil ich deinetwegen noch mal den ganzen beschissenen Berg hochgerannt bin. Gerannt! Ich hatte saumäßige Seitenstiche! Ich war fertig, Mann! Nur wegen dir! Und dabei warst du die ganze Zeit unten und hast dich im Gebüsch versteckt!« Bei der Erinnerung packt mich erneut der Zorn, aber Anoki sieht mich mit einer so wirkungsvollen Mischung aus Leiden und Schuldgefühlen an, dass er ebenso schnell wieder verblasst.
Mein Bedarf an sportlichen Aktivitäten ist für den Rest des Monats gedeckt. Da kann mein hyperaktiver Bruder sich auf den Kopf stellen. Für mich gibt’s nur noch Fernsehen, Fressen und … und sonst nichts.
»Ich leg mich jetzt hin«, sage ich, »und du
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