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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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freizubekommen. Er ist eingeschlafen und fängt jetzt furchtbar an zu pieksen. Ein paar Minuten lang schließe und öffne ich rhythmisch meine Faust, bis das schmerzhafte Prickeln nachlässt.
    Wenn ich nicht so dringend pinkeln müsste, würde ich es dabei bewenden lassen, aber der Druck auf meiner Blase duldet keinen Aufschub, also muss ich auch meine Beine freikriegen. Vorsichtshalber schaue ich nach – meine Sicht wird immer besser, ich glaube, es wird allmählich hell draußen –, ob das wirklich Anoki ist, der mich da blockiert, und ob wir vollständig bekleidet sind, und zu meiner Erleichterung kann ich beides mit Ja beantworten. Wie er da bäuchlings der Länge nach auf meinen Beinen liegt, den Kopf höchst kompromittierend auf meinen Unterleib gebettet (wodurch der Druck auf meine Blase noch verstärkt wird), kann ich nur beten, dass uns niemand gesehen hat. Gleichzeitig würde ich ganz gerne noch ein bisschen in dieser Position verweilen und mich fruchtlosen, verbotenen Träumereien hingeben. Aber dann besteht die Gefahr, dass ich ins Bett pinkle. Oder dass Judith erwacht und mir bei diesem Anblick den Ring ins Gesicht schleudert.
    Mir ist inzwischen klargeworden, dass wir uns in Bennis früherem Zimmer befinden, das ja seit Anokis Einmarsch meins geworden ist. Als ich aus dem Bad zurückgekehrt bin, ist es hell genug, um alle atmenden Wesen in diesem Raum zu identifizieren. Neben Judith und Anoki, die immer noch reglos auf meinem Bett schlummern, entdecke ich noch Andrea, Joachim und meine jüngste Cousine Tamara. Sie liegen auf dem Boden, tragen immer noch dieselben Klamotten wie bei der Party und sehen ausnahmslos aus, als seien sie an Ort und Stelle vom Schlag getroffen worden. Vorsichtshalber gehe ich einmal rund und beuge mich zu jedem Einzelnen herunter, um die Atmung zu überprüfen. Ich weiß ja nicht, was Anoki tatsächlich in die Torte gemixt hat – vielleicht war es auch Rattengift. Aber sie geben alle beruhigende Lebenszeichen von sich, also war es wohl doch nur eine großzügige Portion Dope.

 
 
102
    Für meine Familie wird diese denkwürdige Verlobungs-Überraschungsparty ein ewiges Mysterium bleiben, etwas, das sich über Generationen in immer wieder erzählten Legenden erhalten wird.
    »Dein Ururgroßvater soll einmal auf einer Verlobungsfeier seines Neffen überall knallrote Herzchen entdeckt haben – auf den Fenstern, an den Wänden, an der Decke – überall. Und deine Urgroßtante hat dort zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben Tango getanzt, obwohl sie es nie gelernt hat.«
    Für Anoki und mich dagegen ist sie ein sorgfältig gehütetes Geheimnis, dessen kryptische Erwähnung durch Schlüsselbegriffe wie »Verlobungstorte« jedes Mal einen Teil ihres unvergesslichen Geistes heraufbeschwört und für reichlich irres Gekicher sorgt. Und für Judith ist sie der Beweis für die unerwartete Freundlichkeit und Vorurteilslosigkeit meiner Familie.
    »Die sind ja alle total herzlich«, sagt sie gerührt, während sie sich Tante Anettes selbst gemachtes Quittengelee auf ihr Brötchen löffelt. »Damit hab ich wirklich nicht gerechnet.«
    Die allumfassende Liebe, mit der sich hier gestern Abend alles und jedes in den Armen lag, dauert tatsächlich an, denn auch beim Frühstück herrscht noch eine friedvolle, vertrauliche, wenn auch leicht gedämpfte Stimmung. Offenbar ist kaum jemand nach Hause gegangen, mit Ausnahme meiner ältesten Tanten und Onkels. Ich hoffe im Stillen, dass sie alle den Weg gefunden haben und nicht noch Tage später ziellos durch die Heide irren werden. Und außerdem hoffe ich, dass sie unterwegs niemandem begegnet sind, insbesondere keinen Polizisten.
    Abgesehen von einem gelegentlichen leichten Schwindelgefühl geht es mir wieder ganz normal. (Schade irgendwie.) Nachdem wir die letzten Gäste verabschiedet haben – also weit nach Mittag – und mein Vater sich gähnend in sein Schlafzimmer verkrochen hat, kremple ich die Ärmel hoch und fange an aufzuräumen. Judith hilft unaufgefordert mit, während Anoki mit derselben Selbstverständlichkeit auf dem Sofa herumlümmelt, uns bei der Arbeit zusieht und Anweisungen gibt.
    »Der Stuhl da muss noch hoch, der ist aus meinem Zimmer.«
    Judith wird zunehmend ärgerlicher, aber statt ihm einfach die Meinung zu geigen, giftet sie mich an: »Könntest du deinem Bruder vielleicht mal sagen, dass er mit anpacken soll, anstatt hier rumzunerven?«
    Meine Antwort ist vermutlich nicht sehr diplomatisch: »Ach, lass ihn doch.

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