Herzbesetzer (German Edition)
Duschgelduft, und seine Boxershorts hat er tatsächlich an – sonst aber nichts. Mein Entsetzen wächst, und ich rücke mehrere Zentimeter von ihm weg. »Was machst du denn hier?«, frage ich panisch. Statt einer Antwort fragt er zurück: »Wie meinst du das mit dem Slip und der Kopfstütze?«
»Das war nur ein Traum«, erwidere ich ungeduldig, »aber hättest du jetzt mal die Güte, mir zu erklären, wieso du nackt auf meinem Bett sitzt?«
Anoki grinst träge und deutet auf seinen Intimbereich. »Guck mal«, sagt er, »ist das wirklich nackt?«
Ich bin nicht in der Stimmung für solche Witze und schon gar nicht für eine endlose Kette von Gegenfragen. »Okay – raus hier«, zische ich ihn an. »Aber im Eiltempo!«
Er wird sofort wieder ernst und schaltet seinen flehenden Blick ein. »Ich wollt doch bloß fragen, ob du mir hier« – er dreht mir halb den Rücken zu – »’n bisschen Salbe draufmachen kannst. Ich komm da nicht ran.«
Zu meinem Schrecken entdecke ich eine großflächige, ziemlich tiefe Schürfwunde, die teilweise mit dunklem Blut verkrustet, teilweise flammendrot geschwollen ist, und stoße einen leisen Schrei aus. »Was ist denn da passiert?«
»Ich bin gestern Abend noch mal skaten gewesen, nur da vorne auf’m Radweg«, sagt Anoki. »Aber hier gibt’s ja überhaupt keine Straßenbeleuchtung, ey. Da lag so’n beschissener Ast quer überm Weg, und ich hab mich voll auf die Fresse gelegt.«
Ich merke, dass mir das Herz gegen die Rippen wummert. Was soll das? Es ist nur eine Abschürfung! Er wird nicht daran zugrunde gehen! Er wird nicht sterben …! Sekundenlang ringe ich nach Luft, ehe ich ihm antworten kann. »Okay«, hechele ich, »hast du Salbe?«
Er drückt mir die Tube in die Hand. Anoki ist mager, sehnig und blass. Seine Schulterblätter treten scharf hervor, aber seine Oberarme weisen die feinen Rundungen einer gut ausgeprägten Muskulatur auf. Einer von diesen Jungs, die zu wenig essen und zu viel Sport treiben.
Ich brauche fünf Portionen Salbe, bis ich die abgeschürfte Fläche dünn bedeckt habe. »Eigentlich solltest du lieber zum Arzt gehen«, sage ich. »Wenn du jetzt ein Hemd drüberziehst, reibt es die ganze Zeit an der Wunde. Das wird ewig nicht abheilen.«
»Nee«, sagt Anoki unbehaglich, »ich will ja deinen Eltern nicht direkt so’n Ärger machen. Ich hab denen gar nichts davon erzählt. Sonst lassen die mich vielleicht nicht mehr skaten oder so.«
»Muss ganz schön wehtun«, sage ich.
Er zieht die Schultern hoch, dann lächelt er niedlich. »Jetzt geht’s schon besser«, sagt er, »vielen Dank.« Er schnappt sich die Tube mit der Salbe, schraubt sie zu und bewegt seinen festen kleinen Hintern aus meinem Zimmer.
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr kommt es mir vor wie ein Zeichen. Gestern Abend habe ich mit Sven darüber gesprochen, dass ich besser auf Anoki aufpassen muss. Und noch ehe die Nacht richtig vorüber ist, taucht mein waghalsiger Ersatzbruder schon mit einer üblen Verletzung bei mir auf. Es ist, als sollte ich mit der Nase darauf gestoßen werden: Da, schau hin! Das ist nur die erste Warnung! Wenn du nicht wachsam bist, wird er bald genauso ein Stück rohes, totes Fleisch sein wie Benjamin, und du wirst schuld daran sein! Einmal Versager – immer Versager! Vielleicht ist das ja auch ein klein wenig paranoid. Aber ich bin lieber paranoid, als mir einen zweiten Mord umzuhängen, oder? Ich werde Anoki also nicht aus den Augen lassen, und ich werde auch meine Eltern briefen, denn eins ist klar: gegen Anoki war Benjamin der reinste Chorknabe. Benni hatte überhaupt kein ausgeprägtes Bedürfnis nach Risiko, er war eher ein ruhiger Typ und hat auch als Kind wenig gefährliche Dummheiten gemacht das war mehr mein Spezialgebiet.
Oft denke ich, dass das alles nur passiert ist, weil er sich mit mir messen wollte, weil er mit mir gleichziehen wollte, weil er nicht hinter mir zurückstehen wollte – die übliche Bruderneidsache halt, diese uralte Kiste mit dem Erstgeborenenrecht. Ich meine, warum sollte ein Vierzehnjähriger unbedingt in die Disco wollen? Hätte ich es ihm nicht beinahe jedes Wochenende vorgemacht und ihm dann auch noch in den glühendsten Farben davon erzählt (ja, klar wollte ich ihn neidisch machen!), dann wäre das Bedürfnis bestimmt nicht so früh in ihm erwacht, das alles auch mal mit eigenen Augen zu sehen.
Also muss ich mir jetzt ein paar Dinge vornehmen. Erstens: Ich muss lernen, Anoki altersgemäß zu behandeln und
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