Herzbesetzer (German Edition)
Anoki ist ein nettes Kerlchen, und hübsch ist er auch, aber ich steh nicht auf Kinder – ganz bestimmt nicht. Okay? Die Sache ist erledigt. Energisch bis aggressiv schlage ich die Bettdecke zurück und gehe zum Fenster, denn dieser sonderbar helle Schimmer hat es mich bereits ahnen lassen: Es hat wieder geschneit. Genauer gesagt schneit es immer noch, und zwar in fetten, schweigsamen, träge und unerbittlich fallenden Flocken. Es ist so still, als habe der Schnee jegliche Spur menschlichen Lebens ausgelöscht. Im Übrigen ist es noch sehr früh – kurz nach sieben –, aber wenn ich nicht den Rest meines Urlaubs im Wartezimmer verbringen möchte, müssen wir zeitig beim Arzt sein.
Ehe ich Anokis Zimmer betrete, halte ich kurz inne, um alle peinlichen Irrtümer radikal zu unterdrücken. Er schläft noch, den Panther im Arm, seine schwarzen Schlangensträhnen in alle Richtungen über das Kissen fließend. Ein träumendes Kind mit langen Wimpern, zarter Haut und mageren Handgelenken. Ein Bild der Unschuld, das allerdings durch die geklauten Turnschuhe vor seinem Bett etwas rissig wird.
Ich zwinge mich, an Erbseneintopf zu denken, und wecke Anoki auf – natürlich ohne ihn zu berühren. Ich rufe nur leise seinen Namen. Und zwar ungefähr achtzehn Mal, dann zeigt er eine erste Reaktion: er dreht sich auf die andere Seite. Möglicherweise werde ich ihn doch anfassen müssen. Zögernd strecke ich die Hand nach seiner Schulter aus und rüttele behutsam daran. »Hey! Faule Ratte! Schwing deinen Arsch aus dem Bett, ich bring dich zum Arzt!«, säusele ich zärtlich. Anoki bleibt vollkommen bewegungslos, aber auf einmal beginnt er mit geschlossenen Augen zu grinsen. Vermutlich ist er schon die ganze Zeit wach und wollte bloß mal sehen, wie ich meine Aufgabe meistere. Na gut, jetzt weiß er’s.
»Du kannst jetzt aufhören, dich schlafend zu stellen«, sage ich leicht verstimmt, »geh dich duschen, und beeil dich, sonst ist das Wartezimmer voll. Ich mach schon mal Frühstück.«
Meine Mutter ist erstaunt, dass wir so früh auf sind, aber ich mache ihr weis, dass wir einen Einkaufsbummel geplant haben und zum Mittagessen zurück sein wollen. Anoki setzt sich an den Esstisch und verzieht für eine Sekunde vor Schmerzen das Gesicht. Wer weiß, was für Komplikationen sich aus seiner Schürfwunde noch entwickeln, von Sepsis bis Tetanus ist alles drin! Er verabreicht sich zwei randvolle Suppenschalen mit Cornflakes und schiebt noch ein Schinkenbrötchen hinterher, und dafür braucht er nicht mal lange. Dann packen wir uns wetterfest ein, gehen raus und legen in einer archäologischen Hauruckaktion mein Auto frei, was Anoki dazu nutzt, mich von oben bis unten mit nassem, pappigem Schnee zu besudeln. Ich werde den ganzen Vormittag in diesen nasskalten Klamotten rumsitzen und hoffentlich eine tödliche Lungenentzündung davontragen, damit er an meinem Grab vor Schuldgefühlen zusammenbricht.
Bis ich den Schlüssel aus der Tasche gefischt und die Wagentür geöffnet habe, wäre beinahe schon wieder die nächste Ausgrabung fällig. Es schneit unerhört heftig. Im Fußgängertempo tasten wir uns die Alt Ruppiner Allee entlang in Richtung Ärztezentrum. Unterwegs frage ich Anoki, ob er seine Versichertenkarte dabeihat, und er tut erschrocken und sagt: »Scheiße! Was ist’n das? Brauch ich die?«, und als ich einen minutenlangen Wutanfall hinter mir habe und gerade umkehren will, fängt er an zu kichern und erklärt, das sei nur ein Witz gewesen, natürlich habe er die Karte dabei. Sein Sinn für Humor ist wirklich gewöhnungsbedürftig. Oder sagen wir mal so: Ich glaub, ich bin aus diesem Alter raus.
Als ich mit Anoki das ebenso überheizte wie überfüllte Wartezimmer betrete, glotzen ihn alle an. Er sitzt eine Weile schweigend neben mir und glotzt zurück, bis die meisten sich wieder ihrer Frau mit Herz oder Super-Illu zugewendet haben. Dann fragt er mich leise: »Hab ich irgendwas Ekliges im Gesicht oder so?« Ich seufze bekümmert. »Na ja, ich glaub, es sind deine Haare«, flüstere ich zurück, um ihn zu schonen und nicht gleich die ganze Liste seiner Auffälligkeiten aufzuzählen. Ich drücke Anoki eine Ausgabe des Stern in die Hand, aber er macht den Eindruck, als wisse er nicht recht, was man damit macht. Würde mich nicht überraschen, wenn er ihn gleich noch verkehrt herum hielte. Tja, ich glaube, für Vierzehnjährige ist Lesen eine ungefähr so geläufige Fertigkeit wie für unsereins das
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