Herzbesetzer (German Edition)
Spitzenklöppeln.
Unsere Verweildauer im Sprechzimmer verhält sich umgekehrt reziprok zur Wartezeit. Der Arzt guckt sich die Verletzung an, schnalzt mit der Zunge, zupft mit einer Pinzette ein paar Textilfasern aus dem entzündeten Fleisch, besprüht die Wunde mit irgendeiner desinfizierenden Lösung und bedeckt sie dann mit einem Gazeverband. Zum Schluss gibt er uns ein Rezept mit auf den Weg und fragt mich schließlich: »Ist …« (hier guckt er auf seine Unterlagen) »A-no-ki bei euch zu Besuch?«
Und ich erkläre: »Nein, meine Eltern haben ihn als Pflegekind aufgenommen«, worauf er erschrocken die Augen aufreißt, sich aber schnell wieder fängt und uns mit hastiger, professioneller Freundlichkeit verabschiedet. Meine Familie ist seit Jahren bei ihm in Behandlung, er kennt Benni und mich fast von Geburt an. Jetzt hat er etwas, worüber er den Rest des Tages nachdenken kann.
»War ich tapfer?«, fragt Anoki draußen. Es hat aufgehört zu schneien.
»Ja, warst du«, bestätige ich. »Hart wie ein Mann. Nicht der kleinste Schmerzenslaut. Du bist echt ein Indianer, Baby.«
»Gut«, sagt Anoki befriedigt, »dann hab ich mir jetzt ’ne Belohnung verdient. Lass uns zu McDonald’s gehen.«
»Das ist doch blöd«, wende ich ein, »meine Mutter kocht uns was zu Mittag. Das wäre nicht fair.«
Anoki setzt wieder sein Böckchen-Gesicht auf. »Boar, bist du ’n Muttersöhnchen, ey«, mault er. Ein Vorwurf, den ich zum ersten Mal höre – so überraschend, dass ich lachen muss. Sofort hellt sich auch Anokis Miene wieder auf, und ich bin hingerissen von seiner Fähigkeit der sekundenschnellen Regeneration. Oder auch von ihm. Zumindest bis diese ohrenbetäubende Alarmglocke in meinem Kopf zu schrillen beginnt und kreischrote Stoppschilder vor meinem inneren Auge kreisen. Das bringt mich vollständig aus dem Konzept; ich hab keine Ahnung mehr, was wir gerade besprochen haben, fahre wie auf Schienen mit Anoki zu McDonald’s und kaufe ihm alles, was er will. Und das ist eine Menge.
Während er sich den dritten Cheeseburger reinschiebt, sagt er mit vollem Mund: »Dein Vater redet ja nicht viel, was? Ist der immer so ruhig?«
Ich schlucke mühsam. »Ja, also, ruhig war er immer schon«, fange ich unbeholfen an. »Und ich glaub … also, ich … ich hab den Eindruck, er weiß nicht, was er mit dir reden soll. Vielleicht braucht er einfach Zeit, um sich wieder an diese Altersklasse zu gewöhnen oder so.«
Anoki lässt sich nicht viel anmerken, aber er isst langsamer, und irgendwas an seinem Blick verändert sich. »Wahrscheinlich kann der mich nicht leiden«, sagt er und bemüht sich, es unbekümmert klingen zu lassen.
»Quatsch«, widerspreche ich energisch, obwohl ich dasselbe vermute. »An dir liegt das ganz bestimmt nicht.« Anoki soll sich nicht dafür verantwortlich fühlen, wenn die Familiendynamik nicht funktioniert. Sie haben ihn ausgewählt, nicht umgekehrt. Sie müssen sehen, wie sie mit ihm zurechtkommen. Ich weiß natürlich, dass meine Mutter wild entschlossen und mein Vater noch nie fähig war, ihr ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen. Selbst wenn er sich getraut hätte, sein Unbehagen gegenüber Anoki laut auszusprechen – meine Mutter hätte alle Einwände beiseite gefegt.
»Na ja, ich denk mal, die Entscheidung lag wohl mehr bei deiner Mutter«, spricht Anoki meine Gedanken aus und saugt an dem Strohhalm in seinem Cola-Eimer.
Dann verblüfft er mich vollends, indem er sagt: »Ach, jetzt guck doch nicht so. Ich komm schon klar. Vielleicht kann ich deinen Vater ja noch ’n bisschen für mich erwärmen.« Er grinst mutwillig, und ich bewundere ihn aus tiefster Seele. Für seinen Optimismus, seine Zähigkeit, seinen ungebrochenen Lebensmut. Für all diese Eigenschaften, die man am wenigsten bei einem Kind erwarten würde, das die eigenen Eltern an der Autobahn ausgesetzt haben wie einen lästigen Köter.
21
Meine Eltern haben sich überlegt, dass Silvester eine schöne Gelegenheit wäre, Anoki im Familien- und Freundeskreis zu präsentieren. Wir haben ein paar Verwandte in Neuruppin und Umgebung – Onkels, Tanten, Cousins und Cousinen –, und es gibt drei, vier Familien, mit denen meine Eltern schon seit Jahren befreundet sind. Mein Onkel hat eine Art Partyscheune in Nietwerder, die haben sie für den Silvesterabend gebucht.
Sie beginnen schon morgens mit den Vorbereitungen. Meine Mutter produziert ein kalt-warmes Büfett, und mein Vater ist vor Ort, um die Scheune zu dekorieren, Tische und
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