Herzbesetzer (German Edition)
Weise seinen Kopf, so dass er nicht mehr entkommen kann. Natürlich versucht er, nach mir zu boxen, aber ich sage leise in sein Ohr: »Mir gefallen deine Haare, so wie sie sind.« Anoki erschlafft und guckt mich fragend an. Ich verifiziere die Aussage durch ein aufrichtiges Lächeln, und genau wie ich gehofft hatte, lächelt er sofort zurück. Das ist zum Anbeißen, wie er binnen Sekundenbruchteilen von stinksauer auf zuckersüß umswitchen kann! Es macht mich high.
Ehe ich etwas tun kann, das ich nachher bereuen würde, lasse ich ihn los und verleihe meiner Haltung, meiner Stimme und meiner Mimik wieder Autorität.
»Und jetzt ernsthaft«, kündige ich an: »Ich soll dafür sorgen, dass du sauber und anständig aussiehst. Also, mach mal deinen Kleiderschrank auf, ich such dir was raus.« Das tut er, wenn auch widerwillig, und ich stelle fest, dass da drinnen ziemliche Leere herrscht. Wie zu erwarten will er unbedingt mein Weihnachtsgeschenk, die geringelte Sweatjacke, anziehen. Das geht in Ordnung. Die neuen geklauten Turnschuhe sind auch okay. Was er an Hosen anzubieten hat, ist allerdings ziemlich kläglich: zwei Paar Jeans, die sich nur durch die Platzierung ihrer Löcher, Risse und Fransen unterscheiden. An einer ist die Gesäßtasche halb abgerissen, und durch das dabei entstandene Loch genießt man eine verlockende Aussicht auf seine Unterwäsche. Also entscheide ich mich für die andere, die nur die obere Hälfte seines Knies zeigt, obwohl auch das bestimmt nicht den Vorstellungen meiner Eltern von »vorzeigbar« entspricht.
»Hör mal, nächste Woche müssen wir unbedingt mal ein paar Klamotten für dich kaufen«, sage ich erschüttert. »Du kannst doch nicht mit zwei Hosen auskommen! Und das hier, sind das alle deine T-Shirts?« Der jämmerliche Stapel umfasst genau drei fadenscheinige, vom Waschen völlig ausgebleichte Hemdchen.
»Nee«, sagt Anoki, »eins hab ich ja noch an.« Warme Pullover besitzt er überhaupt nicht, nur dieses grüne Sweatshirt, in dem ich ihn das erste Mal gesehen habe, und ein langärmeliges hellgraues Shirt mit Graffiti-Aufdruck, bei dem sich die Schulternaht auflöst.
Kopfschüttelnd klappe ich die Schranktüren wieder zu. »Haben sie denn im Heim nicht darauf geachtet, dass ihr was Ordentliches zum Anziehen habt?«, frage ich.
Aber er fragt bloß zurück: »Gehst du echt mit mir shoppen? Fett!« Ich nicke und seufze vor Mitleid mit ihm und Ärger auf diese Kinderverwahranstalt, die nicht mal in der Lage war, Anoki vor der eisigen Kälte des Berliner Winters zu beschützen.
Es ist mir gelungen, Anoki von der Unangemessenheit seiner Fuck-, Shit-, Piss-off- und Hate-Buttons sowie seiner nietenbeschlagenen Lederaccessoires zu überzeugen, ich habe dafür gesorgt, dass er die schwarze Schirmmütze trägt, die wenigstens einen Teil seiner autonomen Rastasträhnen bedeckt, und ich konnte ihn überreden, nur heute und nur Mutti zuliebe mal auf den Kajalstift zu verzichten und sich stattdessen die Fingernägel sauber zu machen. Obwohl ich auf diese Leistungen sehr stolz bin, muss ich zugeben, dass er immer noch eine reichlich erbarmungswürdige Erscheinung ist, wie er da neben mir im Auto sitzt. Ehrlich gesagt wirkt er ohne seine subversiven Zubehörteile wie ein obdachloser Junkie auf dem Weg zur JVA. Bestimmt fühlt er sich auch so, denn er ist still, blass und ernst. Ich lege den Arm um seine schmalen Schultern und drücke ihn kurz ermunternd an mich, aber da springt mich schon wieder die Bestie der verbotenen Gier an, und ich muss schnell in die entgegengesetzte Ecke des Fonds rücken und angestrengt aus dem Fenster ins Nichts starren. Anoki guckt mich fragend von der Seite an, dann kapiert er. Ich merke es an diesem minimalen, feinen Lächeln, das für eine Sekunde seine Lippen bewegt, und an seiner etwas aufrechteren Sitzposition, als sei er gerade um ein, zwei Zentimeter gewachsen.
22
Diese Party ist für Anoki eine harte Bewährungsprobe, das wissen wir alle. Er meistert sie mit bewundernswerter Gefasstheit. Zuerst lässt er sich von meiner Mutter herumreichen wie ein Tablett mit Hors d’œuvres, schüttelt unzählige Hände, beantwortet geduldig die immer gleichen bescheuerten Fragen (»Wie gefällt es dir denn in Neuruppin?«, »Hast du dich denn schon ein bisschen eingelebt?«, »Auf welche Schule gehst du denn?« und dieser ganze sinnlose Mist), lässt sich unvorstellbar viele Namen sagen, die er sowieso sofort wieder vergessen wird, und bleibt dabei bis zum
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