Herzbesetzer (German Edition)
Schluss höflich. Er wirkt entspannt, fast ein bisschen schläfrig. Er lächelt nicht, aber sein Gesichtsausdruck ist so vollkommen neutral und frei von Emotionen, dass man ihm nichts Negatives nachsagen kann. Ich beobachte ihn fast die ganze Zeit und rätsele, ob das seine Strategie ist: keine Gefühle zeigen, alles über sich ergehen lassen und hoffen, dass es bald vorüber ist. Ja, ich glaube, so ähnlich war er auch an seinem ersten Wochenende bei uns. So diffus und undurchschaubar wie eine Nebelwand – und ebenso unangreifbar.
Kaum hat er alle Höflichkeitsrituale absolviert, kommt er zu mir und stellt sich neben mich, bis ich das Gespräch mit meiner Cousine beendet habe.
»Kommst du mit raus?«, fragt er dann, und zwar auf eine so dringliche Art, dass ich unmöglich nein sagen kann. Wir entfernen uns von der Scheune, bis wir in völliger Dunkelheit auf einem schneebedeckten Acker stehen, dann dreht Anoki sich einen Joint und teilt ihn brüderlich mit mir.
»Ach so«, sage ich, von jäher Erkenntnis erleuchtet, »du hast dich vorher kräftig gedopt, was?«
»Nur ’n bisschen«, erwidert Anoki lächelnd. Das erklärt natürlich einiges. Mit der richtigen Menge an THC im Blut kann man wahrscheinlich sogar eine Familienfeier mit vierzig Unbekannten schmerzfrei ertragen.
»Und das hier war der letzte Rest«, fügt er hinzu, indem er mir den Joint aus den Fingern nimmt. »Kannst du mir was Neues besorgen?«
Was? Das ist doch bestimmt strafbar, einen Vierzehnjährigen mit Drogen zu versorgen, oder? »Äh, ich weiß nicht«, sage ich, »das Zeug macht doch impotent.«
Er wirft mir einen leidenden Blick zu. »Meine Potenz ist so ziemlich das Letzte, wo ich mir Sorgen drum machen muss«, gibt er zurück, und das sehe ich ein. Also gebe ich ihm das halbherzige Versprechen, mich mal darum zu kümmern.
Während wir die letzten Züge nehmen, sagt Anoki: »Okay, ich geh jetzt wieder rein. Ich krieg das schon irgendwie gebacken. Aber um zwölf will ich mit dir hier draußen sein. Genau hier, ja?« Wow – das hört sich ja an wie ein Rendezvous! In meiner Fantasie wälze ich mich bereits im farbigen Licht eines gigantischen Feuerwerks leidenschaftlich mit ihm im Schnee, dann lasse ich ein rostiges Fallbeil heruntersausen und bin wieder im Hier und Jetzt.
»Ähm, ja«, sage ich mit trockener Kehle. »Ja, ich bin hier. Punkt zwölf.« Und wir trotten auf die heimelig erleuchtete Scheune zu, bis wir wieder das Wummern des Discofox hören können.
Als ich um vier Minuten vor zwölf unauffällig die Flucht ergreife – nicht ohne mir zuvor eine Flasche Sekt aus der Kühlung genommen zu haben –, ist Anoki schon verschwunden. Er erwartet mich am Treffpunkt und hält ebenfalls eine Flasche Sekt in der Hand, was uns beide zum Lachen bringt. Ich hätte mir denken können, dass mein gesetzloser Neubruder nicht ohne irgendein jugendgefährdendes Diebesgut hier auftauchen würde. Am Horizont zerplatzen bereits die ersten Raketen, aber wir kriegen ganz genau mit, wann es wirklich zwölf Uhr ist. Da dringt nämlich alkoholisch entfesselter Lärm aus der Scheune, und jetzt knallt und kracht es rund um uns herum. Anoki hängt sich an meinen Hals, legt den Kopf an meine Brust und sagt: »Halt mich mal fest.« So stehen wir da, Minute um Minute, und ich verliere jegliches Gespür für Zeit und Raum.
Es ist eine ziemlich surreale Angelegenheit. Dieser riesengroße Radius von Nichts umgibt uns wie eine Schutzzone, und niemand kann uns sehen oder hören, während wir genau mitkriegen, was außerhalb geschieht. Wir sehen, wie die Partygäste die Scheune verlassen, um das Feuerwerk anzuschauen, und ihre Stimmen und ihr Gelächter dringen gedämpft zu uns herüber, aber niemand würde vermuten, dass Anoki und ich einander hier fest umklammert halten und uns ganz bewusst von allem distanzieren. Ab und zu nehmen wir einen Schluck aus der Sektflasche. Irgendwann sage ich: »Frohes neues Jahr«, und Anoki antwortet dasselbe, fügt aber hinzu: »Hat wahrscheinlich schon frohere gegeben.«
Ich lockere meine Umarmung ein bisschen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Immerhin hast du doch jetzt wieder eine Familie«, versuche ich ihn zu trösten. Worauf er sagt: »Familie, weiß nicht – aber ’n Bruder.« Er legt sein hübsches Köpfchen wieder an meine Brust, und irgendwas Heißes, Nasses läuft an meiner Nase entlang.
23
Wir haben beide Flaschen Sekt geleert, ehe wir widerstrebend zur Scheune zurückgekehrt sind, und dann
Weitere Kostenlose Bücher