Herzbesetzer (German Edition)
war die Party auch schon beinahe vorüber. Der Neujahrstag ist genau wie alle Neujahrstage: in erster Linie geprägt durch einen grauenvollen Kater. Wir schlafen bis mittags, sogar meine Eltern, und hängen dann leidend herum. Keiner von uns sieht wirklich gut aus. Irgendwann raffen wir uns auf, um nach Nietwerder zu fahren und aufzuräumen. Ich sehe zu, dass ich Anoki all die schweren Sachen schleppen lasse – nicht weil ich zu faul dazu bin, sondern weil er sich damit die Anerkennung meines Vaters sichern kann.
Als wir wieder zu Hause sind, geht es uns etwas besser. Der Alkohol hat sich wohl allmählich aus dem Blutkreislauf verabschiedet, und nach der Aufräumaktion fühlen wir uns angenehm müde und zufrieden. Nur Anoki wird immer stiller.
Als wir kurz alleine im Zimmer sind, sage ich zu ihm: »Was ist denn los mit dir? Hast du deine Tage oder was?«
Er gibt erst keine Antwort, guckt mich nur kurz an und dann gleich wieder weg. Ich bin ratlos. Hab ich ihm was getan? Hab ich ihn irgendwie beleidigt, ohne es zu merken? Aber dann sagt er: »Morgen haust du wieder ab.«
Ich hatte diesen Gedanken bisher erfolgreich verdrängt. Morgen ist mein letzter Urlaubstag, abends fahre ich zurück nach Berlin. Dann bleibt Anoki zurück, allein mit meinen Eltern, die ihm immer noch ein bisschen fremd sind, ohne Gleichaltrige, ohne einen Vertrauten, ohne alles. Das ist Folter, ich weiß. Ich bin so hilflos, dass mir keine Antwort einfällt, sondern Anoki nur gequält anstarre. Er weicht meinem Blick aus. Anscheinend nimmt er es mir persönlich übel, dass ich nicht hierbleibe.
»Was soll ich denn machen?«, frage ich verzweifelt. »Auf der Arbeit anrufen und kündigen?«
Anoki zieht die Schultern hoch, lässt sie wieder fallen und geht hoch in sein Zimmer.
Vor zehn Tagen bin ich bei meinen Eltern angekommen und wollte nicht mal aus dem Auto aussteigen, hatte einen nagenden Hass auf Anoki, bin ausgerastet, als ich gesehen habe, dass Bennis Sachen weggeräumt waren – all das kommt mir jetzt vor, als sei es vor vielen Jahren geschehen. Bin ich in ein Zeitloch gefallen oder so? Es ist doch unmöglich, dass sich in zehn Tagen so viel verändert! Normalerweise habe ich immer ein Gefühl der Befreiung, wenn ich von Neuruppin nach Berlin fahre. Spätestens an der Stadtgrenze, wo der putzige steinerne Bär auf seinem Sockel sitzt und mir zuzuzwinkern scheint, verspüre ich eine jubelnde Leichtigkeit und sehe dem Leben mit neuer Energie entgegen. Heute ist es genau umgekehrt. Je weiter ich mich von meinem Elternhaus entferne, desto schwerer wird mir ums Herz, und der Bär entlockt mir ein verzweifeltes Stöhnen.
Sonderbarerweise geht es mir dabei gar nicht so sehr um mich. Mein bisheriger Mittelpunkt des Universums scheint sich partiell verlagert zu haben. Ich denke die ganze Zeit darüber nach, wie es Anoki gehen mag – jetzt, morgen, übermorgen, an seinem ersten Tag in der neuen Schule … Das alles muss er ganz alleine bewältigen, und es ist so furchtbar viel und so schrecklich schwer für einen aus dem Nest gefallenen kleinen schrägen Vogel. Sicher, ich vermisse ihn und hätte ihn gern in meiner Nähe, aber was mich am meisten bedrückt, ist meine Sorge um ihn und das Gefühl, ihn im Stich zu lassen, wenn er mich am dringendsten braucht. Das irritiert mich. Wenn ich nicht längst den Glauben an so einen sentimentalen Blödsinn verloren hätte, könnte ich beinahe annehmen, dass ich ihn liebe.
Zum ersten Mal öffne ich meine Wohnungstür mit dem Gedanken, dass es schön wäre, wenn jemand auf mich wartete. Aber das Einzige, was mich erwartet, ist ein übler, muffiger Geruch, weil hier zehn Tage nicht mehr gelüftet wurde und ich vergessen habe, den Müll rauszubringen. Ich packe lustlos meinen Koffer aus, dann schalte ich den PC ein, um meine E-Mails abzufragen, aber noch während die Übertragung vom Server läuft, schiebe ich die Speicherkarte meiner Kamera ein. Anoki! Von allen Seiten und in allen erdenklichen Situationen! Neue Energie fließt durch meine Adern, und ich beginne, die Bilder zu bearbeiten. Das gibt mir Trost, auch wenn es meine Sehnsucht noch steigert. Was für fantastische Aufnahmen! Auf einer schwebt er mit seinem Skateboard fast waagerecht in der Luft, ein erstklassiges Sportfoto, damit könnte ich jeden Wettbewerb gewinnen. Ich starre verzückt auf meinen Bildschirm und seufze, bis mein Handy klingelt.
»Bist du zu Hause?«, fragt Anoki.
»Ja, ich seh mir gerade die Bilder an«, berichte ich
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