Herzbesetzer (German Edition)
begeistert, »die sind absolut toll geworden. Ich könnte ein ganzes Album nur mit Fotos von dir füllen. Ach, vielleicht mach ich das ja. Das bring ich dir dann nächstes Mal mit.«
»Ich hätte lieber ’n paar Fotos von dir – wenn ich mich sehen will, kann ich ja auch in ’n Spiegel gucken«, erwidert Anoki pragmatisch. »Und was genau heißt denn ›nächstes Mal‹? Wann kommst du wieder?«
Am liebsten würde ich sofort losfahren. Dann hab ich eine bessere Idee. »Ich hab dir doch versprochen, mit dir Klamotten kaufen zu gehen«, sage ich, »also musst du nach Berlin kommen. Am besten gleich Freitag. Setz dich nach der Schule in den Zug, ich hol dich in Spandau ab. Was hältst du davon?« Na, was soll er schon davon halten – er ist natürlich total aus dem Häuschen. Aber so was lässt man mit vierzehn ja nicht raushängen. »Könnt ich machen«, sagt er bedächtig, als müsse er noch darüber nachdenken.
Wir quatschen siebenundvierzig Minuten lang miteinander, während ich unausgesetzt Fotos bearbeite. Für jemanden, der sonst nie mehr als einen Satz pro Viertelstunde redet, ist Anoki am Telefon eine ganz schöne Quasselstrippe. Nachdem ich den Beenden-Knopf gedrückt habe, ist es bereits so spät, dass ich keine Lust mehr habe, Janine anzurufen, obwohl ich mir das für heute Abend vorgenommen hatte (akuter Notstand). Ich ziehe in Betracht, stattdessen eine meiner Ab-achtzehn-DVDs einzulegen, aber danach ist mir erst recht nicht zumute. Also gehe ich mit einem vagen Gefühl der Leere ins Bett und wälze mich lange von einer Seite auf die andere.
24
Bis Freitag ruft Anoki mich jeden Abend an. Unser Rekord liegt bei vierundsechzig Minuten. Ich bin dazu übergegangen, beim Telefonieren das Headset zu verwenden, damit ich gleichzeitig noch was anderes tun kann und die Hände frei habe. Ein Großteil unserer Gespräche ist einfach nur Geplänkel, alberne Wortspiele und so weiter. Trotzdem tauschen wir uns über alles Essenzielle aus, zum Beispiel über Anokis neue Schule. Seine Begeisterung hält sich in äußerst überschaubaren Grenzen, aber er ist ein Optimist durch und durch, deshalb geht er davon aus, dass er die drei oder vier einigermaßen sympathisch wirkenden Jungs in seiner Klasse irgendwann auf seine Seite ziehen kann. Zu den Lehrern kann er noch nicht viel sagen. Freundlich sind sie zunächst alle, außer sein Geschichtslehrer, der direkt einen dummen Spruch über seine Haare rausgelassen hat. Ich rate Anoki eindringlich, sich das nicht zu Herzen zu nehmen, und mache ihm deutlich, dass er für manche Leute immer eine lebende Zielscheibe sein wird, solange er sich gezielt von der Masse abhebt – aber genau das ist ja das Besondere an ihm, und es wäre schade, wenn er jetzt einknickt und zum angepassten Jasager wird. So und ähnlich gestaltet sich mein neuer Nebenjob als Telefonseelsorger. Was nicht heißen soll, dass mein Herz nicht neuerdings jedes Mal einen freudigen Hüpfer macht, wenn ich die Nummer meiner Eltern auf dem Display sehe.
Ich habe vierzehn Fotos von Anoki im Format dreizehn mal achtzehn ausgedruckt und in meiner Wohnung aufgehängt; jetzt sieht es hier aus wie in einem Museum, und ich spiele mit dem Gedanken, Eintrittsgelder zu erheben.
»Das ist mein kleiner Bruder«, erkläre ich standardmäßig auf die Fragen meiner Besucher. Völlig unverfänglich, nicht wahr? Und auf die unweigerlich folgende Frage: »Und warum hast du so viele Bilder von ihm aufgehängt?« antworte ich nonchalant: »Na, findest du nicht, dass das tolle Aufnahmen sind?«
Am Donnerstagabend treffen wir am Telefon letzte Abmachungen für Anokis Besuch in Berlin. Er teilt mir mit, wann er in Neuruppin losfährt, und ich verspreche, ihn pünktlich auf dem Bahnsteig in Spandau zu erwarten. »Wir können dann gleich in den Spandau Arcaden shoppen«, schlage ich vor, »da gibt es eigentlich alle Läden, die wir brauchen.«
»Okay. Und ich übernachte dann bei dir«, erwidert Anoki bestimmt. Ich erstarre vor Schreck. Wie jetzt? Übernachten? Bei mir? Ich hab nur ein Bett! Das ist zwar Kingsize, aber es verfügt über keinerlei Grenzeinrichtungen mit Natodraht, Elektrozäunen oder Selbstschussanlagen! Und selbst dann wäre ich nicht sicher, ob ich das aushalten könnte. Ich fange an zu schwitzen. »Nee, also, das geht nicht«, sage ich lahm, »ich hab keinen Platz …«
»Macht nichts«, entgegnet Anoki fröhlich. »Ich bin ja nicht sehr dick.«
»Trotzdem«, sage ich jetzt etwas energischer, »das geht
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