Herzbesetzer (German Edition)
und zappe mich durch die Programme, aber aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er ein dunkelrotes T-Shirt mit einer applizierten Krone hervorzieht, von dem ich ganz sicher bin, dass ich es nicht bezahlt habe. Wenig später hält er eine olivgrüne Armyjacke in den Händen, für die dasselbe gilt. Von da an wende ich meinen Blick nicht mehr vom Bildschirm ab, bis er alles verstaut hat. Das ist mir einfach zu viel. Ich hab jetzt nicht mehr die Kraft, ihn noch wegen seiner chronischen Klauerei zusammenzuscheißen.
Er schließt die Reisetasche und sagt: »Ähm, was ich noch sagen wollte. Danke.« Mit strahlendem Lächeln steht er da, die pure Freude.
Ich nicke schwach. »Hab ich gern gemacht«, erkläre ich, was wenigstens teilweise der Wahrheit entspricht.
»Wenn ich irgendwas für dich tun kann …?«, sagt Anoki. Ich schweige und hoffe, dass er meine Gedanken nicht lesen kann. Zutraulich setzt er sich viel zu dicht neben mich auf die Couch, legt die Füße neben meine auf den niedrigen Glastisch davor und lässt sich vom Fernsehprogramm berieseln.
Das Klingeln meines Handys lässt mich hochschrecken, und ich schubse fast Anoki von der Couch, der möglicherweise ebenfalls eingeschlafen war. Hektisch suche ich mein Telefon. Der Anrufer ist Tom, und seine Stimme klingt etwas vorwurfsvoll.
»Was ist denn los, stehst du im Stau oder was?«
Ich bin total verwirrt, mein Kreislauf sackt ab, weil ich so unvermittelt hochgesprungen bin, und wovon redet er überhaupt? »Was, wieso, Stau? Was für’n Stau?« Dann fällt es mir wieder ein. »Scheiße! Der Kleiderschrank! Warte mal – wie spät ist es denn?«
»Gleich halb zehn«, belehrt mich Tom. »Bist du besoffen oder was?«
Ich hatte ihm versprochen, um neun Uhr bei ihm zu sein und ihm zu helfen, seinen alten Kleiderschrank runter auf die Straße zu tragen, weil morgen früh der Sperrmüll kommt. Allerdings hatte ich, als ich diese Verabredung getroffen habe, noch angenommen, dass Anoki dann längst wieder im Zug nach Neuruppin sitzen würde, denn schließlich haben Minderjährige bis spätestens zweiundzwanzig Uhr hinter Schloss und Riegel zu sein.
»Ach, verdammt«, sage ich. »Tut mir leid, ich bin einfach eingeschlafen. Ich war mit meinem kleinen Bruder shoppen.«
»Verstehe«, sagt Tom mitfühlend – er hat eine jüngere Schwester. »Kommst du denn trotzdem noch vorbei? Dauert ja nicht lange.«
Natürlich werde ich ihn nicht hängenlassen, und ich verspreche ihm, in zwanzig Minuten bei ihm zu sein. Dann wende ich mich Anoki zu. »Ich muss kurz noch mal weg. Dauert höchstens eine Stunde. Nimm dir was zu essen oder zu trinken aus dem Kühlschrank, mach unter keinen Umständen die Tür auf, geh nicht auf die Straße und lass die Finger von meinem PC.«
Er legt lächelnd zwei Finger an eine imaginäre Mütze. »Jawoll, Chef.«
26
Es dauert ein bisschen länger als eine Stunde, weil der Schrank aus vielen beschissenen kleinen Einzelteilen besteht, weil Tom im dritten Stock wohnt und keinen Aufzug hat und weil ich ihm noch ausführlich vorjammern muss, wie Anoki mich aufs Kreuz gelegt und ausgenommen hat. Das tut mir gut, ich fühle mich dank seiner mitleidsvollen Worte jetzt so richtig bedauernswert und edelmütig.
Als ich nach Hause komme, sitzt Anoki immer noch vor dem Fernseher, und ich atme erleichtert auf. Die Erleichterung hält ungefähr zwei Sekunden an, dann merke ich, dass er eine DVD aus meiner geheimen Sammlung eingelegt hat und mit hellwachem Interesse das hemmungslose Treiben verfolgt. Sprachlos vor Entsetzen stehe ich mitten im Wohnzimmer, und er sagt, ohne mich anzusehen: »Guck mal, die eine da, die hat total komische Nippel, was?« Ja, hat sie – aber das ist kein Anatomielehrfilm, sondern ein Hardcoreporno, und deshalb schreie ich: »Mach das sofort aus!«
Anoki wirft mir einen milde überraschten Blick zu und fragt: »Wieso?«, dann guckt er weiter.
Ich ringe nach Luft, überwinde meine Lähmung und drücke selbst auf den Stopp-Knopf.
»Och, schade«, sagt Anoki, »jetzt wollte der die grade noch mal von hinten vögeln.«
Wütend fauche ich: »Ein bisschen Lesen solltest du aber doch schon gelernt haben, oder? Da steht dick und fett ›Ab achtzehn‹ auf der Hülle.« Ich halte sie ihm vor die Nase.
Anoki kichert und zeigt auf eins der abgedruckten Szenenfotos: »Guck mal, da ist ja die mit den komischen Nippeln!« Hastig reiße ich die DVD-Hülle wieder aus seinem Gesichtsfeld.
Ich gehe in die Küche, um mir ein Bier aus
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