Herzbesetzer (German Edition)
unsägliche Kalauer auf meine Kosten macht, aber das macht mir nicht viel aus – ich mache ja mit ihm dasselbe. Indem wir jeder die kleinen Schwächen des anderen ins Lächerliche ziehen, nehmen wir ihnen die Spitze und verwandeln sie in etwas Liebenswertes. Ich glaube, man kann sagen, dass wir einander so umfassend und vollständig akzeptieren, wie das nur vorstellbar ist. Es gibt buchstäblich nichts an Anoki, das mich anhaltend ärgert, reizt, nervt oder stört, und umgekehrt scheint es genauso zu sein. Sobald er etwas macht oder sagt, das mir im Ansatz nicht ganz passt, reiße ich darüber ein paar respektlose Witze, und dank seines unübertroffenen Sinns für Humor kann er über sich selbst lachen und weiß gleichzeitig, wo ich meine Grenzen ziehe. Ganz ähnlich geht er mit mir um. Ich habe vermutlich in meinem ganzen bisherigen Leben nicht so viel gelacht, gekichert und gealbert wie in den paar Stunden, die ich mit Anoki verbracht habe. Es ist mir völlig egal, dass ich mir neben ihm vorkomme, als sei ich ebenfalls höchstens vierzehn.
Da mein Kühlschrank einem Getreidefeld nach dem Heuschreckenangriff ähnelt, müssen wir wohl oder übel frühstücken gehen.
»Das ist ja unglaublich!«, meckere ich vor mich hin. »Hast du eigentlich einen Bandwurm oder was? Wie kann ein einzelner Mensch so viel fressen? Du musst ja einen Magen wie ein Mehlsack haben!« und so weiter.
Anoki hört mir schweigend zu, weil er sich den Mund mit den restlichen Nachos und Flips vollgestopft hat, die noch von gestern Abend auf dem Couchtisch standen, aber er schmunzelt beim Kauen und zeigt keinerlei Anzeichen von Reue. Natürlich ist es mir gleichgültig, wie viel er isst – das Problem ist nur, dass ich es kaum noch bezahlen kann. Ich habe Anoki in Neuruppin abgeholt, was rund vierzig Euro Benzinkosten verursacht hat; gestern Mittag hat er fünfzig Euro in Schallgeschwindigkeit unter die Leute gebracht; die abendliche Pizzaorgie hat weitere dreißig Euro verschlungen, und mein vormals gut sortierter Kühlschrank ist leer.
Es scheint, dass Anoki meine Verzweiflung spürt, denn als ich heimlich im Flur in meiner Geldbörse herumkrame und meine verbliebene Barschaft überprüfe, steht er plötzlich neben mir.
»Hey, warum frühstücken wir nicht bei Ikea?«, schlägt er vor.
»Super«, antworte ich etwas gereizt, »wie viele Billy-Regale brauchst du denn, um satt zu werden?«
Mit glockenhellem Lachen erklärt Anoki: »Da gibt’s auch ’n Restaurant, du Dorftrottel. Und Frühstück für eins fünfundneunzig.«
Eins fünfundneunzig? Wow! Das entspricht recht genau dem, was ich zu investieren bereit bin. »Ist das wirklich wahr?«, frage ich zweifelnd.
Anoki zuckt die Achseln. »Geh ins Internet, wenn du mir nicht glaubst.«
Wenn das so weitergeht, wird er noch zum wandelnden Lexikon, und ich weiß nicht, ob ich ihn dann noch sexy finde. Aber fürs Erste ist mir mit seinem enzyklopädischen Wissen enorm geholfen. »Na los, was stehst du hier noch rum?«, scheuche ich ihn.
Da Anoki von dem Billigfrühstück noch zwei Remakes benötigt, um annähernd satt zu werden, hält sich die Ersparnis in Grenzen, aber ich will mir den Tag nicht durch kleinliches Rechnen verderben. Stattdessen überlege ich mir, wie ich mein vor Energie sprudelndes Brüderlein so auslasten kann, dass er mir am Nachmittag noch ein bisschen Ruhe gönnt, ehe der große Theaterabend ansteht. Sein Skateboard hat er diesmal nicht dabei, aber ich kaufe ihm eine Badehose (eine relativ überschaubare Investition, weil ich mich strikt weigere, die von ihm erflehte Marke zu wählen, und auf ein No-Name-Produkt ausweiche), und wir gehen schwimmen. Falls ich gehofft hatte, dass er von so viel körperlichem Einsatz müde würde, habe ich mich getäuscht – er wird lediglich hungrig. Ich stopfe seinen ständig aufgerissenen Schnabel zu Hause mit vier großen Dosen Ravioli, von denen ich ungefähr ein Sechzehntel abbekomme, und zwinge ihn dann, in den Wraeththu-Chroniken weiterzulesen, weil ich jetzt unbedingt ein Stündchen schlafen muss. Murrend, aber gehorsam rollt Anoki sich im Sessel zusammen, und ich lasse mich erschöpft auf die Couch fallen.
Ehe ich ganz weggedämmert bin, schaut er von seinem Buch auf und sagt: »Hör mal, du schläfst aber ganz schön viel.«
Ich bin zu müde, um mich aufzuregen und ihm zu erklären, dass wir heute früh erst gegen vier Uhr ins Bett gegangen, aber bereits um neun wieder aufgestanden sind und dass ich die ganze Woche hart
Weitere Kostenlose Bücher