Herzbesetzer (German Edition)
gearbeitet habe und dass ich eben keine vierzehn mehr bin und dass wir heute bereits ein recht anstrengendes Programm absolviert haben und dass wir abends noch ins Theater wollen – mit anderen Worten: ich stimme ihm zu.
»Vielleicht kommt das von deinen Tabletten«, überlegt Anoki laut.
Überrascht denke ich darüber nach. Klar – die haben natürlich eine beruhigende Wirkung. Sollen sie ja auch. Aber es ist schon richtig, dass ich oft müde bin und mich wann immer möglich auch tagsüber kurz hinlege.
»Kann schon sein«, antworte ich, »aber die brauch ich ja nun mal!«
»Warum?«, fragt Anoki.
»Weil ich mich sonst aufrege«, sage ich geduldig.
»Na und?«, entgegnet er, »was ist denn so schlimm dran, wenn du dich aufregst? Haust eben mal auf’n Tisch und fertig. Danach geht’s dir besser.«
Ich bin noch nie auf den Gedanken gekommen, dass ein Temperamentsausbruch eine reinigende Wirkung haben könnte, was mit Sicherheit daran liegt, dass so etwas im Hause Trojan eben anders gesehen wird. Meine Eltern haben mich schon als Kind zusammengestaucht, wenn ich mal laut wurde, und nach Benjamins Tod fanden sie es erst recht unerträglich. Aber dieses leise Ziehen, das ich bei Anokis Worten spüre, ist vermutlich der Schmerz all meiner unterdrückten Wut-, Freuden- und sonstigen Ausbrüche.
»Meinst du wirklich?«, frage ich, als sei er der Welterfahrene und ich das Kind. Anoki nickt weise, und ich fasse den Entschluss, dieses Wochenende keine Beruhigungskapsel mehr zu nehmen.
Meine Mutter reißt mich telefonisch aus dem Schlaf, um sich nach Anoki zu erkundigen. Ich merke ihr an, dass sie immer noch wütend auf ihn ist, sonst hätte sie ihn im Übrigen ja auch selbst anrufen können.
»Ich hoffe, du hast ihn gut unter Kontrolle«, sagt sie böswillig, »die Berliner Polizei bringt ihn bestimmt nicht nach Hause. Da musst du ihn dann selbst auf der Wache abholen.«
»Ich kümmere mich um ihn«, gifte ich zurück, »bei mir hat er keinen Grund, Dummheiten zu machen!« Meine Mutter ist es nicht gewohnt, dass ich ihr widerspreche – schon gar nicht in so einem Ton –, und ringt hörbar um Fassung.
»Ach, du meinst wohl, er ist hier nur sich selbst überlassen oder was? Erzählt er das? Na, das hätt ich mir denken können. Wer weiß, was für Lügen er noch über uns verbreitet.«
So, jetzt reicht’s aber wirklich. Ich denke, ich werde Anokis Rat folgen und mir einen herzigen kleinen Ausraster gönnen. »Dann bring ihn doch zurück!«, schreie ich sie an. »Bring ihn zurück ins Heim und verlang dein Geld zurück! Hast ja bestimmt Buch geführt über jede Scheibe Brot, die er gegessen hat! Das ist dein gutes Recht! Wenn ein Spielzeug schon nach einem halben Jahr kaputtgeht, hat man noch Garantie drauf!«
Anoki starrt mich mit einem kajalumrahmten Entsetzensblick an wie einen bedrohlichen Fremden.
»Das ist ja wohl eine Unverschämtheit!«, tönt es aus meinem Handy. »Was erlaubst du dir? Seit du ständig mit Anoki zusammenhängst, hast du einen Ton am Leibe – als wenn du in der Gosse großgeworden wärst!« So wie er, will sie wahrscheinlich noch hinzufügen, aber das verkneift sie sich zum Glück.
»Wir müssen jetzt los«, sage ich kalt, »schöne Grüße an Papa, bis morgen.« Ich drücke die Beenden-Taste, lege das Handy vorsichtig auf den Tisch und schlage dann drei-, viermal wütend auf mein Sofakissen ein. Noch immer sieht Anoki mich voller Grauen an und macht nicht die kleinste Bewegung. Ich beruhige mich langsam wieder und grinse ihn an, noch ein bisschen schief allerdings. »Hey – das war deine Idee«, sage ich. »Du hast gesagt, ich soll mich ruhig mal aufregen.«
Anokis Schultern sacken herab. »Aber doch nicht so«, flüstert er.
»Nein? Wie denn?« Jetzt werde ich sogar auf ihn wütend. »Was denn nun?« Ich blitze ihn herausfordernd an, wobei er allmählich die Fassung wiedergewinnt.
»Na gut«, gibt er schließlich zu, »vielleicht ja doch. Ich denke, das war okay. Du hast gesagt, was du denkst. War nur ’n bisschen ungewohnt.«
Ja, für mich auch. Ich bin erschöpft, aber auch befriedigt.
42
Wir sehen uns Linie 1 an, weil Anoki unbedingt das Grips-Theater kennenlernen wollte. Die Aufführung dauert über drei Stunden, und ich hätte nie gedacht, dass dieser unkonzentrierte Zappelphilipp so lange aufmerksam sein kann. In der Pause redet er weniger als normalerweise, wahrscheinlich weil sein schnuckeliges kleines Gehirnchen mit der Verarbeitung der Eindrücke mehr
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