Herzbesetzer (German Edition)
auch. Ich merke, wie ich plötzlich innerlich ganz ruhig und kalt werde, wie jemand, der alles auf eine Karte setzt, weil er weiß, dass er nur diese eine Chance hat.
»Seht euch Anoki mal an«, sage ich sehr viel leiser als bei unserer bisherigen hitzigen Debatte. »Seht genau hin. Ihr wolltet ein Kind in euer Haus holen, das wieder Leben reinbringt und das ihr glücklich machen könnt. Okay – sieht er so aus, als wäre er lebendig und glücklich?«
Sie sehen ihn tatsächlich alle beide an, und sie schweigen. »Alles, was er getan hat«, fahre ich fort, »ist, dass er mit dem Bus gefahren ist, ohne zu bezahlen. Das war ganz bestimmt ziemlich blöd von ihm, aber reicht das aus, ihm seine gesamte Lebensfreude zu nehmen? Er kann nichts dafür, dass die Nachbarn hier Tag und Nacht auf der Lauer liegen und auf Sensationen warten! Er kann nichts dafür, dass man üble Gerüchte verbreitet und hinter eurem Rücken redet! Er ist ein Kind, und er macht Dummheiten wie alle Kinder! Ihr wisst ganz genau, dass die Gören von nebenan noch viel mehr Mist gebaut haben, als sie in dem Alter waren!« Meine Eltern schweigen immer noch. Ich fange an, mich selbst für meine Eloquenz zu bewundern.
»Anoki und ich fahren jetzt nach Berlin, und wir werden uns ein unbeschwertes Wochenende machen«, fahre ich mit ungewohntem Selbstbewusstsein fort. »Er kriegt ein bisschen Abstand, ihr habt eure Ruhe, und wenn er am Sonntagabend wiederkommt, fangt ihr noch mal von vorne an. Und in der Zwischenzeit denkt mal darüber nach, was für ein Gefühl das ist, wenn man sich die Zuneigung seiner Eltern mühsam erarbeiten muss. Normalerweise ist Elternliebe ein Geschenk, keine Ware.« Na, ist das ein granatenmäßiger Schlusssatz? Und auf mich trifft er, nebenbei bemerkt, auch zu. Meine Eltern sind ziemlich still geworden und bringen nur noch ein paar lahme Bedenken vor, während ich Anokis fertig gepackte Reisetasche schnappe, den Arm um seine Schultern lege und ihn energisch nach draußen schiebe.
Im Auto fällt die Anspannung von ihm ab, und er quatscht mich dermaßen voll, dass ich fast die Ausfahrt verpasse. Er redet über alles Mögliche: wie sinnlos Beförderungsgebühren in öffentlichen Verkehrsmitteln sind, dass er übers Internet Kontakt zu einem Mädchen aus Dresden aufgenommen und sie ihm auch schon zurückgeschrieben hat, welches Theaterstück wir uns am Samstag ansehen werden, ob ich ihm bitte noch mal neues Dope besorgen kann und vor allem und immer wieder, wie dankbar er mir ist, dass ich ihn »da rausgeholt« habe, wie er es bezeichnet. Mir ist nicht wohl dabei, wenn er das so sagt. Ich habe Angst, dass sich die Fronten verhärten. Deshalb rede ich ihm ins Gewissen, dass er meine Eltern verstehen soll. Es sei nicht leicht für sie, erkläre ich ihm, weil sie durch die Aufnahme eines, ähm, sagen wir mal: etwas auffälligen Pflegekindes sozusagen auf dem Präsentierteller gelandet sind und halb Neuruppin sie jetzt belauert: Wann schneidet dieser langhaarige Hippie ihnen die Kehlen durch, zündet ihr Haus an und verschwindet mit ihrem Auto? Darauf sagt Anoki: »Ey, du bringst mich ja auf die geilsten Ideen, Alter«, und als wir endlich wieder gemeinsam lachen, weiß ich, dass es ihm jetzt besser geht.
40
Wir kommen erst spät in der Nacht zu Hause an, gönnen uns aber noch ein Bier, ehe wir uns zum Schlafen legen. Diesmal zieht Anoki sich gar nicht erst an den Matratzenrand zurück. Er und sein Panther legen sich sofort ganz nah neben mich, so dass ich die Wärme seines Körpers spüren kann. Ich verstehe, dass er jetzt ein bisschen Nähe braucht, und verscheuche ihn nicht. Zum Glück bin ich todmüde.
Mein Radiowecker holt mich wie gewohnt um sieben Uhr mit den Nachrichten aus meinen Träumen, während Anoki unbeeindruckt weiterschläft. Bevor ich gehe, beuge ich mich noch mal über meinen wunderschönen, schlafenden Ersatzbruder und gebe der Versuchung nach, ihn sanft auf die Stirn zu küssen. Das geht doch, oder? Das ist doch nichts Anstößiges? Anoki lächelt und schlägt die Augen auf. In diesem Moment benötige ich das gesamte Ausmaß meiner Selbstbeherrschung. Ich rücke ein Stück von ihm weg und sage leise: »Ich geh jetzt zur Arbeit. Schlaf dich aus, und dann ruf mich an, okay? Ich sag in der Schule Bescheid, dass du heute nicht kommst.« Weil es mir so schwerfällt, mich von ihm loszureißen, streiche ich ihm sanft ein paar schwarze Schlangen aus dem Gesicht. »Mach hier bloß keinen Scheiß«, fühle ich mich noch
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