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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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kann. »Tja, ähm, das ist … Also, ich find’s jetzt nicht total scheiße, aber … meine Eltern … o Gott … die werden ausrasten.«
    Das weiß er natürlich auch. »Ich sag denen einfach, du hättest mich überredet«, sagt er dreist. »Oder gezwungen. Mit Schlägen. Obwohl ich das ja überhaupt nicht wollte.« Glaubt er wirklich, dass er mich mit diesem zuckersüßen Lächeln um den Finger wickeln kann?
    »Die werden mich mit der Heckenschere rasieren«, ächze ich resigniert. »Die drehen durch. Hundertprozentig.«
    Anokis Lächeln weicht einer gewissen Verärgerung. »Jetzt hör mal auf zu jammern, du Schürzenkind«, weist er mich herzlos zurecht. »Sag mir doch mal lieber, dass das voll fett aussieht!«
    Ich hab keine Ahnung, welches drittklassige Hinterhof-Piercingstudio er aufgesucht hat, denn eigentlich war ich davon ausgegangen, dass Minderjährige die Einwilligung der Eltern vorlegen müssen, ehe sie sich verstümmeln lassen, aber vielleicht hat er einfach seinen radioaktiven Charme ausströmen lassen. Und ich kann vermutlich froh sein, dass er sich nicht noch zusätzlich die Nase, die Lippe, die Zunge und die Brustwarzen hat durchstechen lassen. Irgendwie sieht es sogar ziemlich sexy aus, was ich ihm aber auf keinen Fall sagen werde. Ich werde die Schmähungen meiner Eltern einfach wie gewohnt mit gesenktem Kopf über mich ergehen lassen. Bloß mein schöner Traum von diesem arroganten »Ihr-kommt-eben-nicht-mit-ihm-klar«-Auftritt ist jetzt wohl zerplatzt. Mistkerl.
    Die Empörung meiner Eltern ist dann allerdings das geringste Problem bei der Übergabe. Viel, viel schlimmer ist der Abschied von Anoki. Er ist so verzweifelt, dass ich mir ernsthafte Sorgen um ihn mache, und als ich allein zurück nach Berlin fahre, baue ich beinahe einen schlimmen Unfall vor Zerstreutheit. Ich versuche mich selbst zu beruhigen: Es geht ihm ja nicht schlecht bei meinen Eltern, sie mögen ihn, sie bemühen sich um ihn, im Vergleich zu seiner Zeit im Heim hat er hier das Paradies. Aber er sieht das aus einer anderen Perspektive: Im Vergleich zu seiner Zeit bei mir hat er hier die Hölle.
    Meine Wohnung sieht fremd aus ohne Anoki und die Dinge, die er so um sich verteilt; wie ein billiges Hotelzimmer, das nur mit dem Nötigsten ausgestattet ist. Ich weiß gar nicht, was ich hier soll. Was fange ich mit mir an? Kann man es in zwei Wochen verlernen, allein zu sein? Ich überlege, ob ich irgendjemanden anrufen soll, um die dröhnende Stille zu vertreiben, aber mein Widerwillen gegen fremde Stimmen und dämliche Fragen ist zu groß. Ich könnte Anoki anrufen, entscheide mich aber ebenfalls dagegen, weil ich ihm damit sicher nur noch mehr wehtue. Also schalte ich den Fernseher ein und sitze stumm brütend davor. Irgendwann scheint es mir angemessen, ins Bett zu gehen, wo ich Anokis Kopfkissen an mich drücken kann und ein bisschen Trost finde, ehe ich einschlafe.

 
 
56
    Falls ich gehofft habe, dass Anoki durch seinen Aufenthalt bei mir geläutert wäre, hab ich mich getäuscht. Meine Eltern werden innerhalb eines Monats zwei Mal in die Schule bestellt, weil er massiv den Unterricht gestört hat: einmal durch beharrliches Widersprechen und einmal durch Handgreiflichkeiten mit einem anderen Schüler. Im Falle des Widerspruchs ging es um das Thema Hausbesetzungen, und da hat Anoki eine sehr eigene Sichtweise – eine authentische, wie ich finde, die der Lehrer eigentlich respektieren und sogar schätzen sollte. Aber der sah wohl seine Autorität und die moralische Gesundheit seiner Klasse gefährdet, also haben sich die beiden mitten im Unterricht ein hitziges Streitgespräch geliefert. Ich bin stolz auf Anoki, dass er sich behauptet und seinen Standpunkt verteidigt hat. Das lasse ich ihn auch wissen, aber ich muss natürlich trotzdem ein bisschen rummeckern, sonst denkt er am Ende noch, er könne sich immer eine eigene abweichende Meinung leisten.
    Die Schlägerei im Klassenzimmer lasse ich mir ebenfalls aus seiner Sicht schildern, und diese Version lautet so: Für den Biologieunterricht ist die Klasse über die Wallanlagen gewandert. Sie sollten möglichst viele Pflanzen, Vögel und sonstige Tiere auflisten, die ihnen dort begegnen, und einer der Jungs fand eine verletzte Ratte. Während Anoki der Meinung war, man müsse sie zum Tierarzt bringen – ihr war ein Bein abgebissen worden oder so was –, konnte sich sein Widersacher mit der Überzeugung durchsetzen, Ratten seien Ungeziefer und gehörten in die Mülltonne, und

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