Herzbesetzer (German Edition)
als wir zu Hause sind und uns bettfertig machen, erschüttert er mich mit der Bemerkung: »Ich mach nie irgendwas richtig. Ich weiß auch nicht warum. An mir klebt Scheiße oder so.«
Fassungslos starre ich ihn an. »Was? Wovon redest du?«
»Guck mich doch an«, sagt er bitter. (Ja – mach ich doch ständig!) »Ich hab zu viel gesoffen, ich hab dich geärgert, ich hab dein Geld verschwendet. Dabei wollt ich alles gut machen, ’n tollen Abend mit dir haben und dass du mal stolz auf mich sein kannst. Irgendwie schaff ich das nie. Ich bin immer nur voll peinlich.«
Meine Fresse, was mach ich bloß? Bei jedem anderen würde ich solche Äußerungen als klassisches Fishing for Compliments abtun und wäre genervt, aber Anoki ist nicht der Typ für so was. Wenn er sich als peinlich bezeichnet, dann empfindet er das auch so. Was soll ich jetzt tun? Wie kann ich sein Selbstvertrauen wiederherstellen? Ich führe ihn zur Couch, drücke ihn in die Polster und setze mich neben ihn. Das reicht nicht aus, also lege ich den Arm um ihn.
»Anoki«, fange ich an. »Mein sturzbesoffener kleiner Bruder. Du redest Müll. Soll ich dir ein paar ernst gemeinte Komplimente machen? Würde dir das helfen?« Er sieht mich nur unsicher an, gibt aber keine Antwort. »Soll ich dir sagen, wie schön es ist, dass du hier bist? Wie ich mich immer den ganzen Tag auf dich freue? Ich könnte dir auch verraten, wie unglaublich stolz ich auf dein Raumschiff war und wie sagenhaft abgebrüht du heute den DJ gemacht hast. Oder wie wär’s damit: Ich hab noch nie einen einzigen Cent bereut, den ich für dich ausgegeben habe. Ach ja, oder das hier: Wenn ich mich mit meinen Freunden treffe, geb ich immer unglaublich mit dir an. Am liebsten würde ich den ganzen Tag mit dir den Kudamm rauf und runter laufen, damit jeder sieht, was für einen rattenscharfen kleinen Bruder ich habe.«
Er legt den Kopf an meine Schulter und schweigt noch immer, aber er scheint sich ein bisschen zu entspannen. Nach einer Weile fragt er zaghaft: »Meinst du echt?«
Ich bestätige es. Wieder folgt eine kleine Pause, dann kichert er: »Hast du aber ’n beschissenen Geschmack.«
55
Wir haben die zwei Wochen ohne größere Katastrophen überstanden, und ich bin stolz auf mich. Voller Überheblichkeit rede ich mir ein, dass Anoki nur bei meinen Eltern Mist baut, weil er dort unverstanden und unglücklich ist, während er bei mir zum ausgeglichensten, zufriedensten Teenager wird, den man sich nur vorstellen kann. Ich freue mich darauf, meiner Mutter voller Häme und in gespielter Unschuld sagen zu können: »Also, ich weiß auch nicht, warum er bei euch immer so viel Dummheiten macht – bei mir ist er der reinste Engel.« Leider macht Anoki mir in letzter Minute noch einen Strich durch die Rechnung.
Wir waren am Samstag den ganzen Vormittag mit den Inline-Skates unterwegs, und nach dem Mittagessen befällt mich wieder mein altes Leiden, die bleierne Müdigkeit.
»Ich glaub, ich muss mich mal kurz hinlegen«, gähne ich mit tränenden Augen. Anoki kennt das schon, er ist wie immer das Verständnis in Person.
»Klar«, sagt er großherzig. »Für dein Alter hast du ja auch ganz schön was geleistet heute.«
Noch ehe ich entschieden habe, ob ich ihm dafür eine semmeln soll, bin ich weggenickt. Ich schlafe ungefähr eine Stunde, und Anoki ist nicht mehr da, als ich wieder zu mir komme. Das macht mir wenig aus. In den letzten zwei Wochen habe ich ein gewisses Vertrauen zu ihm aufgebaut. Ich koche mir einen starken Kaffee, dann rufe ich ihn auf dem Handy an.
»Ich stehe wieder zu deiner Verfügung, Ironman«, teile ich ihm mit. »Gib deine Befehle. Wohin soll ich mich schleppen?«
Er gluckst erheitert in den Hörer. »Schon dich noch ’n bisschen«, rät er mir. »Ich komm gleich erst mal nach Hause und guck mir an, in welcher Verfassung du bist. Halbe Stunde, ja?«
Irgendwas an seinem betont sorglosen Tonfall setzt bei mir eine leise Alarmglocke in Gang. »Wo bist du denn?«, frage ich misstrauisch, aber er hat schon aufgelegt. Das macht mich noch nervöser.
Rund vierzig Minuten später ist Anoki wieder zu Hause, und ein einziger Blick genügt, um alle Fragen zu beantworten: Er hat sich die linke Augenbraue piercen lassen.
Voller Grauen glotze ich ihn an. Er hat ein unverkennbar schlechtes Gewissen und versucht es durch strahlendes Grinsen zu überspielen. »Und? Gefällt’s dir? Wollt ich immer schon haben«, sagt er.
Ich muss mich räuspern, ehe ich antworten
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