Herzbesetzer (German Edition)
Woche an der Müritz zelten, und einmal haben wir ’ne Wanderung durchs Elbsandsteingebirge gemacht.«
Oh, na ja. Ich bin gerührt. »Warst du noch nie im Ausland?«, erkundige ich mich erstaunt.
Diesmal schüttelt Anoki den Kopf. Mein soziales Gewissen rammt mir die Faust in den Magen. Der Junge ist vierzehn und hat noch nie einen anständigen Urlaub gemacht! Du wirst ihm jetzt mal was von der Welt zeigen! Und sei bloß nicht so knickrig!
Am nächsten Wochenende bringe ich Prospekte mit. Ich habe mir die letzten zwei Wochen der Sommerferien freigenommen. Meine Chefin wollte mich zuerst auf eine Woche runterhandeln, aber als ich ihr mit treuherzigem Augenaufschlag erzählt habe, dass mein kleiner Bruder doch aus dem Heim kommt und noch nie im Leben verreist war, nahm ihr Gesicht einen völlig veränderten, weichen Ausdruck an, und der Urlaub war genehmigt. Es ist verblüffend, was solche Storys bei Frauen auslösen. Ich glaube, mit Anoki als Angelhaken könnte ich halb Berlin ins Bett kriegen – schade, dass ich eigentlich nur ihn dort haben will.
Jetzt blättert er sich durch meine Reiseprospekte und wendet sein bewährtes Prinzip an: Für mich nur das Beste. Jamaika, Mexiko, Mauritius und die Seychellen hat er bereits in die engere Auswahl gezogen. Ich muss ihn irgendwie bremsen.
»Also, hör mal zu«, sage ich, »Jamaika scheidet schon mal aus, da fällst du ja überhaupt nicht auf – die sehen da alle so aus wie du.«
»Ja – aber ich bin weiß«, widerspricht er sofort.
Ich gehe darüber hinweg – für eine Rassendiskussion hab ich jetzt keinen Nerv. »Und in Mexiko haben sie früher Menschenopfer gebracht. Ich weiß nicht, inwieweit sie dieses Stadium überwunden haben. Am Ende landest du da auf irgend so einem antiken Opferstein, und dann spielen sie mit deinem Schädel Fußball.«
Anoki hört aufmerksam zu. »So was haben die gemacht? Krass! Wie haben die die denn umgebracht, den Kopf abgehackt oder so?«
Ich rede schnell weiter, ehe sein Interesse noch wächst. »Und zu Mauritius und den Seychellen kann ich nur sagen: viel zu langweilig für dich. Du willst doch nicht drei Wochen nur schnorcheln, oder?«
Ich hab ihn überzeugt. »Na gut, dann eben Australien«, sagt er, »da könnt ich surfen. Oder tauchen. Oder Opale schürfen. Oder Haie fangen. Also, da wird’s mir bestimmt nicht langweilig, glaub ich.«
»Kann schon sein«, gebe ich zu, »es sei denn, du findest es störend, dass unser gesamtes Reisebudget allein für den Flug draufgeht.«
Er denkt kurz darüber nach und kommt zu dem Schluss, dass ihn das schon ein bisschen stören würde. »Och Mann«, schmollt er. »Da bleibt ja gar nichts mehr übrig. Dann schlag du halt mal was vor.« Und er schiebt mir resigniert die Prospekte rüber in der deutlichen Erwartung, dass von mir nicht viel mehr zu erwarten ist als Allgäu oder Helgoland.
61
Wir haben keine Entscheidung getroffen, aber bis zu meinem Urlaub ist ja noch Zeit. Als ich am Mittwochabend in aller Unschuld Judith von unseren ins Stocken geratenen Planungen erzähle, merke ich, wie sie sich in meinen Armen verspannt. Erst da wird mir klar, dass ich sie hätte einbeziehen müssen. Scheiße!
»Und was habt ihr so für Pläne für die Ferien«, frage ich total lahm.
»Keine«, erwidert sie schnippisch. »Aber nett, dass du mal fragst.«
»Verdammt, tut mir leid«, seufze ich. »Hätte ich wohl mal früher tun sollen, was? Na ja – wir haben ja noch nichts Konkretes gebucht. Vielleicht … können wir ja gemeinsam …« Himmel! Was rede ich da?!
Sie schnappt zu wie ein ausgehungerter Hecht. »Ja, das wäre bestimmt toll! Du und ich und die Kinder – könnte ein richtig schöner Urlaub sein, meinst du nicht?« Nein, meine ich nicht – auf gar keinen Fall. Ich fühle mich wie eine Fliege an so einem gelben Streifen, den manche Sadisten in ihrer Küche von der Decke baumeln lassen. Jedes weitere Wort wird mich noch gnadenloser verkleben.
An meinem inneren Auge ziehen bereits die grauenhaftesten Szenen vorbei: Anoki, der mit waidwundem Blick beobachtet, wie Judith strahlend nach meiner Hand greift, und sich anschließend mit Tequila ins Koma säuft. Una, die verlangt, dass ich ihr genauso viel Eis, Cola, Pommes, Klamotten und Schnickschnack kaufe wie meinem anspruchsvollen Bruder. Judith, die mich über den Rand ihres Buches hinweg misstrauisch mustert, während ich Anoki in seiner knappen Badehose und mit den glitzernden Wassertropfen auf seiner perfekten Haut krank vor Gier
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