Herzbesetzer (German Edition)
hinterherglotze. Kurz: ein ganzes Kaleidoskop von Alpträumen.
»Was hältst du davon?«, fragt Judith. Von was?
»Entschuldige«, murmele ich schwach, »hab grad nicht richtig zugehört.« Sie legt den Kopf in den Nacken und sieht mir prüfend in die Augen, dann lächelt sie. »Du träumst wohl schon vom Urlaub, was? Ich glaub, der wird dir wirklich guttun. Du wirkst oft ganz schön erschöpft.« Noch ehe ich antworten kann, fährt sie fort: »Weißt du, immer die Fahrerei am Wochenende, das ist einfach zu anstrengend. Du hast ja so gut wie keine Zeit für dich selbst! Ich find’s wirklich toll, wie du dich um Anoki kümmerst, aber … meinst du nicht, dass er so langsam auch mal ohne dich klarkommt? Vielleicht würde er sich ja am Wochenende viel lieber mit seinen Freunden treffen! Hast du dir das schon mal überlegt?«
Das Einzige, was ich mir gerade überlege, ist, ob ich sie würgen oder schlagen soll. Stattdessen muss ich lieb lächeln und irgendwas sagen, was sie hören will – oder soll ich sie rausschmeißen? Ach, was soll’s; sie meint es ja nur gut. »Anoki hat keine Freunde in Neuruppin«, stelle ich klar. »Und wenn du einmal erlebt hättest, wie er sich freut, wenn ich komme, würdest du so was nicht mehr sagen. Aber es ist wirklich schön, dass du dir Sorgen um mich machst … Komm mal her.« Ich ziehe sie an mich und simuliere einen leidenschaftlichen Kuss, damit sie die Klappe hält.
Nein, es ist nicht so, als wäre Judith mir gleichgültig. Oder sogar zuwider. Ich hab Judith gern, ganz ehrlich. Mir gefällt ihre ruhige, liebevolle Art, ich finde sie hübsch, ich mag sogar ihre schlicht geschnittenen Klamotten aus ökologisch unbedenklichen Naturmaterialien, und sie kann tierisch gut kochen und noch besser backen. Ihr Apfelkuchen ist göttlich. Seit ich mit ihr zusammen bin, habe ich fünf Pfund zugenommen. Anoki hat mich neulich in die Taille gekniffen und entsetzt gequiekt: »Julian! Was hast du da?« Also, Judith ist eine Frau, um die mich viele beneiden würden, und der Gedanke, mit ihr in Urlaub zu fahren, ist für sich allein genommen durchaus verlockend. Aber! Klar kommt jetzt das Aber um die Ecke. Es hat schwarze Dreadlocks, einen hinreißenden Schmollmund und den Anspruch auf uneingeschränkte Herrschaft über meine Zeit, meine Kreditkarte und mein Herz. Und ich lege ihm alles unter seliger Qual zu Füßen, für nichts als ein kokettes Lächeln.
Irgendwie muss ich Judith von der Idee des gemeinsamen Verreisens abbringen, aber das Schlimme ist: Sie hat sich bereits total in sie verrannt. Am Dienstag schockiert sie mich mit der Bemerkung, Una habe Andalusien als Ziel vorgeschlagen und brauche im Übrigen noch einen neuen Badeanzug. Einen Tag später berichtet sie, sie habe ihren Personalausweis verlängern lassen und gleichzeitig für Una einen Kinderausweis beantragt – »je nachdem, wo wir hinfahren, braucht sie den ja«, und ihr Chef habe ihren Urlaubsanstrag genehmigt. Außerdem hält sie mich über die Lichtschutzfaktoren von Sonnenmilch auf dem Laufenden, kauft mir ein Paar khakifarbene Bermudashorts, lässt Una gegen Tetanus impfen und holt sich aus der Stadtbibliothek einen ganzen Stapel Reiseliteratur. Ich bin vollkommen wehrlos. Und mache mir aus Angst vor Anoki fast in die Hose.
Mir ist den ganzen Freitag schlecht. Während der Arbeit muss ich dreimal aufs Klo, und auf der Fahrt nach Neuruppin bekomme ich ein nervöses Zucken am linken Auge.
Anoki springt mir wie üblich zur Begrüßung mit Anlauf an den Hals, drückt mir die Luft ab, bis mir schwindlig ist, beißt mir ins Ohrläppchen und stöhnt: »Na endlich! Warum hast du so lange gebraucht?«
Im Hintergrund taucht meine Mutter auf, deren zurückhaltende Begrüßung den gewohnten schmerzhaften Kontrapunkt zu Anokis Ekstase setzt, und danach gehe ich in den Garten, wo mein Vater mit dem Rasenmäher herumlärmt, aber mir zuliebe kurz innehält. Anoki klebt dabei die ganze Zeit an mir wie ein Parasit und gibt sich keine Mühe, seine Ungeduld zu unterdrücken, bis er mich endlich ganz für sich hat – also da, wo ich hingehöre.
Wir setzen uns auf die Terrasse, er holt mir ein klirrend kaltes Bier aus dem Kühlschrank, und dann strahlt er mich an und sagt: »Hab dich vermisst.« Spätestens an dieser Stelle sehe ich mich suchend nach einem Gebüsch um, hinter das ich ihn zerren kann. Normalerweise jedenfalls. Heute würde ich mich lieber allein dahinter verkriechen. Ich muss es hinter mich bringen, am besten
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