Herzbesetzer (German Edition)
stehen. Vielleicht fürchtet er, dass ich mich revanchiere.
Der Gedanke bringt mich zum Lächeln, und ich strecke die Hand nach ihm aus und sage: »Komm mal her, ich zeig dir mal, wie feste das war.«
Da grinst er ebenfalls, macht den letzten Schritt auf mich zu, umarmt mich und legt den Kopf an meine Brust. »Scheiße, Alter«, sagt er, »glaubst du, du kannst noch vögeln?«
»Keine Ahnung«, sage ich – ich kann es mir einfach nicht verkneifen –, »wollen wir’s mal eben ausprobieren?«
Er lässt mich abrupt los, schlägt mir lachend gegen die Brust und sagt: »Igitt, du bist voll ekelhaft.«
Meine Eltern gucken uns ungläubig an, als wir eine halbe Stunde später kichernd und einander boxend runterkommen und ihnen mitteilen, dass wir jetzt zur Skaterbahn fahren. Ich gebe zu, dass ich es genieße. Haben sie wirklich gedacht, ich bin der ewige Sündenbock? Pech gehabt. Nicht mit meinem neuen Lieblingsbruder. Wir haben uns noch etwas angegiftet, aber schon mehr spielerisch, ich hab Anoki ein schlechtes Gewissen gemacht, indem ich ihm mein blau verfärbtes Schienbein gezeigt habe (nein, den anderen Bluterguss hab ich ihm nicht gezeigt), er hat sich angemessen geschämt und entschuldigt, und dann haben wir uns ein bisschen geprügelt, aber ohne einander wehzutun, nur so zum Stressabbau. Und jetzt haben wir uns wieder lieb, und ihr könnt uns mal. Tschüs.
Anoki kommt außer Atem und schwitzend von der Halfpipe und lässt sich mit einem eleganten Trick direkt vom Skateboard mit einer halben Drehung neben mir auf die Bank fallen. Wow, cool.
»Aber eins ist klar«, sagt er, als führe er eine angefangene Unterhaltung fort, »wenn Judith mitfährt, bleib ich hier. Kannst du dir aussuchen.«
Ich seufze hörbar. Mir war klar, dass wir das Thema noch mal würden anschneiden müssen. »Nee, pass mal auf«, sage ich, »so läuft das nicht. Ich buche für dich und für mich, und alles Übrige ist Schicksal. Vielleicht schaff ich’s ja noch, sie davon abzubringen, aber versprechen kann ich nichts. Außerdem: Bist du ’ne verdammte Prinzessin oder was? Hast du mich gekauft? Du bist bloß mein kleiner Bruder, Herzchen, und du kannst froh sein, wenn die Erwachsenen dich mit in Urlaub nehmen.«
Anoki zieht die Augenbrauen zusammen. »Du hast mir versprochen, dass wir beide verreisen«, schnaubt er. »Und nicht dass du mich mitnimmst, wenn du mit deiner grünen Minna wegfährst.« Er nimmt ohne Reaktion den Boxhieb für die Beleidigung meiner Freundin entgegen. »Ich dackel doch da nicht hinter euch her, während ihr Händchen haltet und knutscht! Und dann soll ich wahrscheinlich noch auf die Göre aufpassen, damit ihr eure Ruhe habt, was? Habt ihr euch echt toll ausgedacht!«, meckert er.
Ich ziehe ihn an mich. »Hör doch auf«, sage ich beruhigend. »Wir haben uns gar nichts ausgedacht. Ich hab einfach bloß erwähnt, dass wir verreisen wollen, und schwupp!, schon hing sie an mir dran.«
»Warum hast du das dann überhaupt gesagt?«, schreit Anoki aufgebracht. »Geht die doch gar nichts an!«
Mir gefällt seine abfällige Art nicht, aber ich bemühe mich, ruhig zu bleiben. »Irgendwann hätte ich’s ihr doch sowieso erzählen müssen«, sage ich vernünftig. Darauf fällt Anoki nichts mehr ein. Er starrt grimmig auf den Boden, dann schnappt er sich mit einer aggressiven Bewegung sein Skateboard und macht neue waghalsige Flugübungen.
63
Während ich in der folgenden Woche ebenso verzweifelte wie erfolglose Versuche unternehme, Judith von ihren Urlaubsplänen abzubringen, leistet Anoki sich erneut einen wüsten Missgriff, zumindest in den Augen meiner Eltern. Sie waren alle zusammen auf dem Friedhof an Bennis Grab, und mein Vater war der Meinung, es benötige eine neue Bepflanzung. Das ist nichts Besonderes, wir machen das alle sechs Monate, schließlich hat auch die Friedhofsflora so ihre saisonalen Highlights. Anoki hat angeboten, das diesmal zu übernehmen, um meine Eltern zu entlasten, wovon sie zunächst auch einigermaßen gerührt waren. Am nächsten Tag haben sie ihm Geld gegeben, und er ist mit einer ganzen Kiste voller Gartengeräte losgezogen, um Pflanzen zu besorgen und das Grab neu herzurichten. Drei Stunden später kam er wieder nach Hause, erschöpft, dreckig und zufrieden. Das Geld hatte er komplett ausgegeben (was eigentlich nicht so vorgesehen war, meine Eltern hatten es bloß nicht kleiner), aber noch wagte niemand, sich zu beschweren, außerdem war Anoki ganz euphorisch und meinte,
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