Herzblut 02 - Stärker als der Tod
Meine Vorstellungskraft konnte also nicht gerade auf persönliche Erfahrung zurückgreifen.
„Und du willst das auch?“, fragte ich Mom. Ich wünschte mir von Herzen, sie würde sagen: Nein, ich möchte, dass du bei mir bleibst. Mein ganzes Leben lang hatte meine Familie aus Mom, Nanna und mir bestanden. Jetzt war Nanna nicht mehr da, und sie wollten mich auch noch von Mom wegholen.
„Schatz, das ist die beste Lösung. Für alle“, antwortete sie.
„Ich kaufe natürlich ein Haus hier in der Stadt“, fügte Dad hinzu. „Also keine Sorge, du musst weder die Schule wechseln noch deine Freundinnen oder die Tanzgruppe verlassen.“
„Wieso das denn?“, platzte es aus mir heraus. Wenn er mich damit beruhigen wollte, lag er wirklich total daneben. Es gab zwar überall auf der Welt Nachfahren, aber Jacksonville war ihre Heimat. An keinem anderen Ort wohnten so viele von ihnen. Es würde eine unerträgliche Versuchung für Dad sein, unter Hunderten von Nachfahren mit ihrem mächtigen Blut voller Magie zu leben. Und es hätte nur einen Vorteil gehabt, bei meinem Vater zu wohnen: Ich wäre von dem Clann in Jacksonville weggekommen.
Und nicht in Versuchung geraten, wieder mit Tristan zusammen zu sein.
„Der Rat will es so“, sagte er nur.
Wollte der Rat mich etwa weiter auf die Probe stellen, indem ich noch zwei weitere Jahre hier verbringen sollte?
„Aber ich kann dich doch wenigstens noch an den Wochenenden besuchen, oder?“, fragte ich Mom.
„Hör zu, Schatz, wir sind schon mit Nannas Rente kaum überdie Runden gekommen. Ohne sie kann ich das Haus nicht weiter abzahlen.“
Als Dad die Stirn runzelte, verdrehte sie die Augen. „Ja, Michael, ich weiß, dass du deine Hilfe angeboten hast. Aber wir sind nicht mehr verheiratet, und es wäre nicht richtig. Du bist nicht mehr für mich verantwortlich, das weißt du doch.“
Sie wandte sich wieder mir zu. „Außerdem ist das Haus viel zu groß für mich allein. Dann müsste ich mir zur Gesellschaft schon ein paar Hundert Katzen zulegen.“
Ein zögerliches Lächeln vertrieb die Tränen aus meinen Augen. Schniefend wischte ich mir mit den Handrücken die Wangen ab. „Das wäre ja hübsch.“
Sie lächelte. „Eben.“ Nachdem sie tief Luft geholt hatte, ließ sie die größte Bombe platzen. „Aber der wichtigste Grund ist, dass nach dem Tod deiner Großmutter auch ihre Magie vergeht. In ein paar Tagen verlieren alle Zauber nach und nach ihre Wirkung, je nachdem, wie stark sie waren und wann Nanna sie zuletzt erneuert hat. Auch der Dämmzauber.“ Bei dem letzten Satz konnte sie mir nicht mehr richtig in die Augen sehen.
Oh. Damit meinte sie den Zauber, der Blutdurst dämpfte. Niemand außer Nanna kannte diesen Zauber, weil niemand sonst je den Blutdurst eines Vampirs – in diesem Fall meinen – hatte eindämmen wollen, ohne den ganzen Vampir zu vertreiben.
Als Teenagerin hatte Mom sich dafür entschieden, ihre Fähigkeiten verkümmern zu lassen wie einen ungenutzten Muskel. Das hatte aber nichts an ihrer Abstammung geändert. Sie war immer noch eine Nachfahrin, durch deren Adern das mächtige Blut des Clanns floss, und das wirkte auf Vampire nahezu unwiderstehlich.
Ohne die Dämmzauber auf unserem Haus hätte ich es vielleicht auf das Blut meiner eigenen Mutter abgesehen. Und genau diese Zauber verblassten jetzt.
Ich schauderte. Auch wenn ich es ätzend fand, blieb mir wohl nichts anderes übrig. „Dann gehe ich mal lieber packen.“
4. KAPITEL
I ch hätte versuchen sollen, meine letzte Woche in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war, zu genießen. Wahrscheinlich hätte ich auch meine Freundinnen anrufen und ihnen erzählen sollen, dass ich bald zu meinem Vater ziehen würde. Aber Mom hatte schon ihre Eltern wegen Nannas Begräbnis angerufen, und den Rest würden sie spätestens mitbekommen, wenn ich nächste Woche wieder zur Schule ging.
Im Moment wollte ich mit niemandem reden. Ich hätte meinen Freundinnen Lügen darüber erzählen müssen, wie meine Großmutter gestorben war oder warum ich zu meinem Vater zog. Nein, danke. Ich schleppte schon so genug Schuldgefühle mit mir herum. Meine beste Freundin Anne Albright wusste ein bisschen etwas über die Fähigkeiten der Clann-Mitglieder. Letztes Jahr hatte sie Tristan geholfen, die drei Jungs aus dem Algebra-Kurs von mir fernzuhalten, nachdem ich sie aus Versehen mit meinem Tranceblick verhext hatte. Aber sie hatte keine Ahnung, dass ich eine Dhampirin war oder dass es überhaupt Vampire gab.
Weitere Kostenlose Bücher