Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
und einen kleinen Abhang hinuntergehen, der in Richtung Ufer führte. Er war so sehr damit beschäftigt, sich in diesem unwegsamen Terrain zu dieser Stunde zurechtzufinden, dass Gedanken daran, warum er nicht bis zum nächsten Tag hatte warten können, gar nicht erst aufkamen. Er hätte heute sowieso keinen Schlaf mehr gefunden. Er hätte … In diesem Moment rutschte er auf einem Grasbüschel aus, ruderte mit den Armen, verlor dennoch das Gleichgewicht und fiel schmerzhaft auf den Rücken, bevor er die letzten Meter des Abhangs hinunterrutschte und schließlich im dichten Gestrüpp der Uferböschung landete.
Ein paar Sekunden blieb er einfach liegen und blies seinen keuchenden Atem als weiße Wolken in die mondhelle Nacht hinaus. Mit solchen Aktionen würde er sein gesundheitliches Problem nicht gerade verbessern, dachte er bitter. Dann richtete er sich auf. Seine Hände und Ärmel waren feucht vom sumpfigen Ufer des kleinen Sees. Er zog seine Taschenlampe heraus, um zu sehen, ob er sich irgendwelche Blessuren geholt hatte. Als der Lichtkegel seine Hand erleuchtete, war er sicher, dass ihn jetzt sofort ein Infarkt niederstrecken würde: Seine Hände, sein Ärmel, der ganze Mantel – alles war voller Blut …
Zwanzig Minuten später saß Kluftinger wieder in seinem Passat am Rand der Bundesstraße. Den Motor ließ er laufen, drückte jedoch das kleine Knöpfchen an der Fahrertür hinunter und verschränkte die Arme vor der Brust. Er zitterte am ganzen Leib, obwohl aus dem Gebläse warme Luft strömte. Seinen Lodenmantel hatte er in den Kofferraum geworfen und gegen den Janker eingetauscht, der zum Glück noch auf der Rücksitzbank gelegen hatte. Vom Ärmel hatte er das Blut notdürftig mit einem Taschentuch abgewischt.
Als er sich wieder aufgerappelt hatte, hatte er plötzlich Beklemmungen bekommen, dort unten am See, mutterseelenallein, am Ort eines furchtbaren Verbrechens. Was das anging, war er sich sicher. Und so hatte er sich nur schnell umgesehen, bevor es ihm ganz die Kehle zugeschnürt und ihn eine regelrechte Panik ergriffen hatte, von der er durch die Dunkelheit zurück zum Wagen getrieben worden war. Ohne sich umzudrehen, war er gerannt, immer schneller, das Pochen seines eigenen Herzschlags im Ohr, begleitet von den klagenden Lauten der Kröten, die ihn hierhergeführt hatten. Erst am Auto hatte er zitternd die Zentrale verständigt.
Eigentlich war für solche Einsätze während der Nacht und am Wochenende der Kriminaldauerdienst in Memmingen zuständig, doch schließlich hatte er den Kollegen am Telefon überzeugen können, gleich seine eigene Mannschaft aus den Betten zu holen. Dass er nur auf eine Menge Blut, nicht aber auf einen Leichnam gestoßen war, hatte er dabei geflissentlich verschwiegen – der oder die Tote würde sich schon einfinden.
Hier an der Straße würden sie ihn besser sehen, wenn sie kämen. Außerdem war es hier nicht ganz so einsam wie unten am See.
Allmählich begann es zu dämmern.
Gott sei Dank.
Eine halbe Stunde später war von der Einsamkeit am Ufer des Teufelssees, die Kluftinger in der Dunkelheit noch den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte, nichts mehr zu spüren: Willi war mit seinem Team eingetroffen, und sie durchforsteten nun in weißen Ganzkörperanzügen das Gelände, nahmen Proben vom blutdurchtränkten Erdreich, machten Fotos. Einige uniformierte Kollegen hatten das Gebiet weiträumig abgesperrt. Der Kommissar stand zusammen mit Strobl und Maier ein wenig abseits und wartete auf die Ankunft der Hundeführer, die man alarmiert hatte, um einem ganz speziellen Problem dieses Tatortes auf den Grund zu gehen: Es gab tatsächlich keine Leiche. Zumindest nicht in der näheren Umgebung.
»Sag mal, Willi«, rief Kluftinger Renn zu, der gerade etwas Gras mittels einer Pinzette in ein kleines Tütchen beförderte, »meinst du, dass da Tiere im Spiel sein könnten?«
Willi Renn beschriftete noch in aller Ruhe das Beutelchen, legte es in einen seiner Alukoffer und kam dann zu ihnen. »Wie?«
»Na ja, du weißt schon … Also könnte es sein, dass Tiere den Leichnam … quasi …«
Weiter kam der Kommissar nicht mit seiner Erklärung, denn Renn stieß die Luft aus und sagte kopfschüttelnd: »So ein Schmarrn! Meinst du, dieses niederträchtige Allgäuer Braunvieh hat den Körper weggeputzt? Oder tippst du mehr auf bayerische Hyänen? Haben wir am Ende wieder einen Problembären?«
»Willi, ich mein ja bloß. Der Anruf ist ja schon drei
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