Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
auch. Er rieb sich die Augen und konzentrierte sich wieder auf die kleine Liste mit Telefonnummern, die er anfertigte. Im Radio lief eine Reportage über seltene Tiere. Er hatte Bayern 2 eingeschaltet, einen Wortsender, den er sonst fast nie hörte. Aber dem zwanghaften Frohsinn, der auf den anderen Frequenzen verbreitet wurde, hielt er heute nicht stand.
Immer wieder glich er die Adressen der Ärzte, die er für geeignet hielt, mit der Landkarte ab. Vielleicht war das die Route zu seiner Genesung, dachte er.
Ein jammervolles Quaken aus dem Radio ließ ihn kurz aufhorchen. Es stammte von einer seltenen Krötenart, wie der Sprecher sagte. Eine Krötenart, deren Lebensraum immer mehr ins höher gelegene Alpenvorland zurückgedrängt wurde und die nun nur noch an bestimmten Gewässern unter anderem im Allgäu zu finden war. Nun sei die Spezies vom Aussterben bedroht. »Wie ich«, flüsterte Kluftinger niedergeschlagen und fühlte sich den Amphibien auf eigentümliche Art und Weise verbunden.
Nach einem großen Schluck von dem alkoholfreien Bier, das Erika ihm hingestellt hatte, das jedoch einen so schalen Nachgeschmack hatte, dass er angewidert das Gesicht verzog, stand er auf, legte das Telefonbuch weg und verstaute seine Ärzteliste sorgfältig in seinem Geldbeutel. Es wäre nicht gut, wenn Erika sie finden würde.
Vierter Tag
W irre Träume suchten ihn in dieser Nacht heim, Träume von Operationssälen im Wald, deren Personal keine Menschen waren, sondern fette, hässliche Kröten in weißen Kitteln, die, mit Skalpellen bewaffnet, auf ihn zukamen und … Plötzlich schreckte er auf. Sein Gesicht war schweißgebadet, sein Herz schlug viel zu schnell. Unwillkürlich griff er sich an die Brust, doch da war kein Schmerz. Das Geräusch! Natürlich. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass ihm das nicht aufgefallen war. Das jammervolle Quaken der Kröten aus dem Radio hatte er schon einmal gehört. Und zwar am selben Tag im Büro von Werner Zint. Es war das Geräusch, das sie nicht hatten identifizieren können. Das Geräusch von der Tonaufnahme mit dem Mord.
Halb benommen wankte er in die Küche, darauf bedacht, möglichst keinen Laut zu verursachen, um Erika nicht aufzuwecken. Bei jedem Knarren der hölzernen Stufen verharrte er kurz und lauschte. Auf dem Tisch lag noch immer die Karte. Er drehte sie herum. Wie hatte es im Radio noch geheißen? Die Krötenart komme nur an bestimmten Gewässern in Süddeutschland vor. Eines davon erkannte er nun auf der Karte, es war der Große Alpsee. Zwischen Immenstadt und Oberstaufen, das würde also passen. Er beugte sich über die Karte. Wenn man diese Daten noch einmal genau mit denen der Luftfahrtbehörde abgleichen würde …
In diesem Moment übersprang sein Herz einen Schlag. Zuerst glaubte er, er habe im Halbschlaf halluziniert, doch dann las er es: Direkt neben dem Alpsee lag noch ein viel kleineres, unscheinbares Gewässer. Er hatte es bisher nicht gekannt, doch seinen Namen würde er von nun an nie wieder vergessen: Es war der Teufelssee.
Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich etwas Vernünftiges anzuziehen, und so saß er nun mit dem Lodenmantel über dem Schlafanzug in seinem Auto und fuhr mitten in der Nacht nach Immenstadt. Es passte alles so gut: die Umgebungsgeräusche und dann noch dieses Wort, Teufel, das ihm nun wie der Wegweiser eines Verstorbenen vorkam. Ihn fröstelte.
Die Zeiger der Uhr seines alten Passats standen auf kurz vor halb fünf. Er bewegte seine Zehen, die nackt in seinen Winterstiefeln steckten, um sie so etwas aufzuwärmen. Zwar wich der Winter jeden Tag ein wenig mehr zurück, aber zu so früher Stunde war es noch empfindlich kalt.
Nach einer halben Stunde Fahrt, auf der ihm kaum ein Dutzend anderer Fahrzeuge entgegengekommen waren, hatte er den Alpsee passiert, bog von der Bundesstraße ab und parkte seinen Wagen auf einem Feldweg. Er stieg aus und verharrte ein paar Sekunden lang in völliger Regungslosigkeit, lauschte in die nachtkalte Stille – und zuckte zusammen, als nur ein paar Meter entfernt die seltsam metallischen Laute der Kröten ertönten, die er heute schon zweimal gehört hatte.
Sein Puls beschleunigte sich, als er den Lauten folgte. Die kleine Taschenlampe, die er mitgenommen hatte, ließ er in seiner Manteltasche. Der Mond schien hell genug, so dass er den Weg gut sehen konnte. Dachte er jedenfalls, denn um den Geräuschen zu folgen, musste er schon bald die Schotterstraße verlassen
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