Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
verkehrt ist, ab und zu die Mähne des Wildpferds zu teilen.«
Sechster Tag
A m nächsten Morgen wurde Kluftinger früh wach. Sosehr er sich auch mühte, noch ein Stündchen zu schlafen – es gelang ihm nicht, seine Augen längere Zeit geschlossen zu halten. Fünf Minuten später beschloss er, aufzustehen und die gewonnene Zeit zu nutzen.
Er schwang sich aus dem Bett und blieb ein paar Sekunden lang sitzen. Es war schon zur Gewohnheit geworden, dass er erst eine Tagesdiagnose für sich erstellte. Wider Erwarten fühlte er sich etwas besser als in den letzten Tagen.
Zehn Minuten später stand er in der Küche und deckte den Frühstückstisch für sich und seine Familie. Sogar an einen Krug mit Apfelsaft aus dem eigenen Garten hatte er gedacht. Nun machte er sich am Kühlschrank zu schaffen. Doch so recht konnte er sich nicht entscheiden: Wurst passte nicht mehr zu seinem veränderten Lebenswandel, Käse war zu fett, und bloßer Quark schien ihm keine wirkliche Alternative zu sein. Also griff er zur Milchpackung, schloss die Kühlschranktür wieder, tauschte die vier Brotzeitbrettchen gegen Müslischalen aus, griff sich die Cornflakespackung und die Haferflocken aus dem Hängeschrank und arrangierte alles lächelnd auf dem Tisch. Dann machte er sich auf, seine Familie zu wecken.
Er klopfte an Markus’ Zimmertür und schmetterte ein forsches »guten Morgen« hinterher. Als sich nach einer Minute noch nichts getan hatte, intensivierte er Klopfen und Rufen schrittweise. Als er bei vehementem Trommeln und heftigem Schreien angelangt war, öffnete sich ruckartig die Tür. Der Kommissar wich unwillkürlich ein wenig zurück, als ihm sein Sohn mit zerzausten Haaren, Totenkopf-T-Shirt und Boxershorts gegenüberstand.
Markus blinzelte in den Flur und brummte: »Sag mal, Vatter, hast du komplett den Verstand verloren? Leidest du jetzt auch noch unter seniler Bettflucht, oder was? Wir schlafen hier, es ist ja erst … wie spät ist es denn überhaupt?«
»Kurz vor halb sieben. Ich wünsch mir halt, dass wir von jetzt ab immer zusammen frühstücken, bevor ich ins G’schäft geh!«
Sein Sohn starrte ihn ungläubig an, dann schüttelte er den Kopf, sah ihm fest in die Augen und sagte: »Du bist doch nicht mehr ganz sauber, ehrlich, Vatter!« Dann knallte er die Tür zu.
Verdattert stand Kluftinger im Gang. Er hatte es doch nur gut gemeint. Als er sich schon zum Gehen umwandte, vernahm er im Zimmer auf einmal Yumikos Stimme, die seinen Sohn zurechtwies, dass man so nicht mit seinem Vater spreche und dass das gemeinsame Frühstück doch eine reizende Idee sei und er schon mal trainieren könne, wenn sie bei ihren Eltern wären, denn in Japan sei man noch viel früher auf den Beinen.
Kluftinger lächelte zufrieden. Seine Schwiegertochter würde seinen Sohn schon noch zurechtbiegen und die Fehler korrigieren, die ihm und seiner Erika bei der Kindererziehung unterlaufen waren.
»Mag noch jemand ein bissle Saft?«
»Kannst grad selber trinken, Vatter! Der ist ja so sauer wie selten. Hast du schon wieder von Juni ab das ganze Fallobst gesammelt? Bloß nix verkommen lassen, gell?«
Kluftingers Freude darüber, dass bereits um Viertel vor sieben all seine Familienmitglieder um den Frühstückstisch saßen, war nicht mehr ganz so ungetrübt.
»Mir schmeckt er.« Yumiko lächelte.
»Weißt du was? Lass dich doch am besten gleich adoptieren, Miki! Dann kannst du jeden Tag mitten in der Nacht mit deinem tollen neuen Adoptivvater labbrige Cornflakes mampfen!«
Der Kommissar winkte ab und sagte dann zu Yumiko: »Lass den doch schwätzen. Ich danke dir jedenfalls für deine Schützenhilfe … Muschi.«
Markus riss entsetzt die Augen auf, und Erikas Löffel fiel lautstark in die Müslischale. Kluftinger lächelte erwartungsvoll. Es folgten ein paar Sekunden Stille, dann sagte die Japanerin, ohne auf die letzte Bemerkung einzugehen: »Ach, euer Sohn ist eine harte Nussschale, aber er hat wirklich eine weiche Birne!« Dabei legte sie ihrem Verlobten die Hand auf die Stirn. Die drei Kluftingers warfen sich stirnrunzelnd einen Blick zu, begannen zu grinsen und brachen schließlich in schallendes Gelächter aus. Yumiko sah sie mit großen Augen an, und Kluftinger war sich nicht mehr sicher, ob ihre Unsicherheit, was deutsche Redensarten anging, nicht nur ein geschicktes taktisches Manöver zur Wiederherstellung des familiären Friedens war.
Eine gute Stunde später betrat der Kommissar beschwingt sein Büro. Dabei
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