Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
Weile den Hörer an, nachdem er eingehängt hatte.
Dann tippte er entschlossen auf seinem Computer herum, klickte auf das Drucksymbol, sprang mit einem »So!« auf, schnappte sich die beiden Blätter und eilte aus dem Büro. Die Zeit des Aufschiebens war vorbei, sein Leben fand heute statt, nicht irgendwann.
Als er die Tür zur Toilette öffnete, schaute er sich erst um, ob sich außer ihm auch wirklich niemand mehr im Raum befand, bückte sich, um unter den Türen in die Kabinen zu spähen, richtete sich wieder auf, nickte zufrieden und verschwand schließlich in einem der Abteile. Auch wenn er schon oft hier gestanden oder gesessen und die eine oder andere erholsame Minute verbracht hatte, nahm er das kleine Separee nun noch einmal genau in Augenschein. Denn was er heute vorhatte, unterschied sich erheblich von dem, wofür die Örtlichkeit eigentlich geschaffen worden war. Als er sicher war, dass der Platz ausreichen würde, klebte er die beiden Blätter aus dem Drucker mit Tesafilm an die Tür, stellte sich locker hin, wie er es beim Yogakurs gelernt hatte, federte etwas in den Knien, verschränkte die Arme vor der Brust und atmete bewusst aus und ein. Noch während er den ersten tiefen Atemzug nahm, musste er feststellen, dass eine Herrentoilette dafür kein besonders geeigneter Ort war. Die Geruchsbelastung lenkte erheblich ab. Doch wenn er es hier schaffte, sich von äußeren Einflüssen zu befreien, würde er es überall schaffen. In Ermangelung einer Gymnastikmatte klappte er den Klodeckel herunter und führte seine Übung im Sitzen fort.
Und es funktionierte, das ruhige, konzentrierte Atmen versetzte ihn wieder in diesen wohlig warmen und schweren Zustand, seine Muskeln entspannten sich, seine Lider wurden schwer, dann rauschte es gewaltig … Er sprang vor Schreck auf, woraufhin die Klorolle herunterfiel, auf dem Boden in die Nebenkabine rollte und einen Schweif aus Papier hinter sich herzog.
Die fliegende Rolle mit dem weißen Schwanz
hätten die Yogis diese Übung wohl genannt, dachte Kluftinger. Er fand, dass er die Terminologie der Gurus schon ganz gut draufhatte. Nun war ihm auch klar, was da so gezischt hatte: Er war in seiner Entspannung zu weit nach hinten gerutscht und aus Versehen an die Spülung gekommen. Es machte ihn stolz, dass er einen solchen Grad der Entspannung in so kurzer Zeit erreicht hatte, auch wenn ein Restzweifel blieb, ob er nicht einfach wieder nur eingenickt war.
Bevor er weitermachte, kniete er sich hin, um die Rolle unter der Trennwand hervorzufischen. Er streckte seinen Arm aus und konzentrierte sich, sie zu ertasten, da ertappte er sich selbst dabei, wie er vor lauter Konzentration die Zunge aus dem Mund herausstreckte. Er hatte ungewollt den Löwen gemacht – diese indische Gymnastik war ihm schon in Fleisch und Blut übergegangen.
Derart beflügelt, verlief
Die weiße Schlange spuckt Gift
ohne weitere Zwischenfälle. Andächtig führte er die Anweisungen auf dem Zettel aus, stand mit ausgestrecktem Arm wie ein Karatekämpfer da, um in einer sanften Bewegung den anderen Arm nach vorn zu bringen. Die verlangte Hundertachtzig-Grad-Drehung ließ er allerdings weg, dazu war die Kabine definitiv nicht geräumig genug.
Nun wandte er sich der zweiten Übung zu, die er sich ausgesucht hatte. Die hatte ihm schon in der Rehaklinik besonders gefallen, vor allem, weil er sie sich zuerst gar nicht zugetraut hätte:
Auf den Fuß klatschen und den Tiger zähmen.
Er verlagerte sein Gewicht auf ein Bein, legte die Handflächen übereinander, dann war das andere Bein dran, schließlich musste die rechte Handfläche nach außen ausgestreckt werden – allerdings ging das nur bis zur Kabinenwand.
Dann kam der Kick, mit dem er schon bei Langhammer mächtig Eindruck geschunden hatte: Er riss den Fuß hoch, rutschte allerdings auf dem am Boden liegenden Klopapier aus, woraufhin er nach vorn kippte und sein Bein nicht mehr rechtzeitig anwinkeln konnte, so dass er mit ausgestrecktem Bein gegen die Kabinentür knallte, den Aufprall aber mit den Armen abfangen konnte. Seine Herzfrequenz erhöhte sich beträchtlich, und er musste sich erst ein wenig beruhigen, bis ihm seine prekäre Lage klarwurde: Er hing in der Kabine in einer Art verunglücktem Spagat fest. Ächzend versuchte er, sich daraus zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Je länger er so verharrte, desto angenehmer fand er allerdings auch seine momentane Stellung. Diese Dehnung entspannte wirklich ungemein. Gerade als er das
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