Herzblut: Kluftingers neuer Fall (German Edition)
Kluftinger sich, die imposante Kulisse der Füssener Berge bewusst wahrzunehmen. Schön war es hier. Er genoss es sogar, sich von Strobl im Dienst-Golf chauffieren zu lassen: Im Unterschied zu seinen beiden anderen Kollegen wurde es dem Kommissar bei ihm im Auto nie schlecht.
»Da muss es sein«, erklärte der Kollege wenig später. Sie hielten vor einem kleinen, geduckten Haus an der Hauptdurchgangsstraße des Ortes, dessen Fassade mit vergrauten Eternitplatten und rot gestrichenem Blech verkleidet war. »Da ist seit dem Autobahnbau auch nicht viel gemacht worden an dem Hexenhäusle.«
Kluftinger nickte. Bis vor vier Jahren hatte Nesselwang unter einem besonderen Problem gelitten: Die A 7 hatte kurz vor dem Ort geendet, und die Blechlawine gen Süden hatte sich samt Güterverkehr durch das enge Dörfchen gewälzt. Die Menschen hatten sogar Schwierigkeiten gehabt, auf die andere Straßenseite zu kommen. Für ein Haus wie das, vor dem sie jetzt standen, hätte man damals nicht viel mehr als ein Butterbrot bekommen.
»Wie heißt der Mann?«, wollte Strobl wissen, als sie aus dem Auto ausstiegen.
»Josef Wischnewski. Fünfundsiebzig, pensionierter Lehrer, der war früher hier an der Grundschule. Seine Frau auch.«
Sie drückten den metallenen Klingelknopf neben der weißen Kunststofftür. Kurz darauf hörte man Schritte, das Öffnen einer Windfangtür, dann machte ihnen ein gepflegter weißhaariger Mann in grauem Trachtenanzug auf und streckte ihnen lächelnd die Hand entgegen. Hinter ihm tauchte eine Frau etwa im selben Alter auf, sie war adrett frisiert, die Bluse unter dem fliederfarbenen Walkjanker wirkte frisch gestärkt und derart weiß, dass sie jeder Waschmittelwerbung Ehre gemacht hätte.
»Kluftinger, Kriminalpolizei Kempten, mein Mitarbeiter, Herr Strobl.«
»Wischnewski, Josef ist mein Name, grüß Sie Gott. Wischnewski, Gerda, meine Frau.« Er machte eine kurze Pause und blickte über die Schulter. »Meine Frau und ich freuen uns sehr, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Ich darf wohl sagen: Wir sind stolz, Ihnen helfen zu können.«
»Wir wollen nicht lang stören«, erklärte Kluftinger. »Sie wollen ja scheint’s noch weg.«
»Weg? Warum?«
»Ja wegen …« Der Kommissar musterte noch einmal ihre Kleidung, sagte dann aber: »Egal.«
»Ich dokumentiere meine Reisen alle fotografisch, müssen Sie wissen«, fuhr Wischnewski geschäftig fort. »Es ist uns eine Ehre, dass Sie sich für die letzte Orgelfahrt interessieren. Ein ganz vielseitiges Thema, wissen Sie? Ich hab auch immer wieder Berichte im Gemeindeblatt oder in der Zeitung drüber veröffentlicht. Es war uns sogar schon einmal vergönnt, den Erbauer der neuen Orgel im Kölner Dom persönlich kennenzulernen. Wussten Sie, dass er auch schon in Ottobeuren in der Abtei eine Orgel saniert hat?«
»Ist nicht wahr …« Kluftinger versuchte, ein möglichst interessiertes Gesicht zu machen. Typen wie Wischnewski waren der Alptraum jedes Ermittlers. Weil sie sich ungeheuer geschmeichelt fühlten, dass sich jemand für das interessierte, was sie taten, weil sie das Gefühl hatten, helfen zu können, und nicht zuletzt, weil sie sich ganz besonders freuten, dass sie einfach mal Besuch bekamen.
Die beiden Polizisten wurden beschwingt ins Wohnzimmer gebeten, wo der Hausherr auf dem Esstisch bereits mehrere Fotoalben bereitgelegt hatte.
Seine Frau fragte, ob die Herren Kaffee wünschten, und machte sich dann auf in die Küche. Zufällig habe sie noch ein paar Stück Marmorkuchen im Haus, sagte sie beim Gehen. Kluftinger winkte dankend ab und sah sich ein wenig im Raum um: Das Zimmer strahlte mit seiner alten Holzvertäfelung und den niedrigen Decken etwas Heimeliges aus. Die eichene Schrankwand mit den nachgemachten Butzenscheiben und die vielen übereinanderliegenden Fleckerlteppiche waren allerdings eine Nummer zu viel für ihn.
Zehn Minuten später hatten die beiden Polizisten nicht nur jeder ein Stück Kuchen mit Sahne auf dem Teller und eine Tasse Kaffee vor sich, sondern auch diverse Informationen über die berühmtesten mitteleuropäischen Kirchenorgeln nebst Angaben zur Zusammensetzung der »Orgelfreunde Allgäu e.V.« erhalten.
»So, Herr Wischnewski, nehmen Sie es uns nicht übel, aber wir müssten allmählich zum Punkt kommen«, versuchte Kluftinger, sein Gegenüber möglichst schonend und freundlich aufs Thema zu lenken.
»Ja, ja, die letzte Reise. Sicher, Sie haben es bestimmt eilig.« Mit diesen Worten schlug er ein
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