Herzen aus Asche
gewesen wäre. Was würde es für ein Licht auf sie werfen, wenn sie den Termin absagte? Sie hasste unangenehme Telefongespräche, musste sich ohnehin immer dazu zwingen.
Als der Bus der Linie 3B in den Kreisverkehr einbog, hinter dem sich die Haltestelle befand, fasste Amelie einen Entschluss. Der Bus fuhr nur alle dreißig Min uten, und er würde sie bis fast vor die Tür des Hauses bringen, das Herr Eriksson so dringend vermieten wollte. Ohne lange darüber nachzudenken, stieg sie ein, zeigte ihr Studententicket beim Fahrer vor und setzte sich in die vorderste Sitzbank. Instinktiv wusste sie, dass sie in Begriff war, etwas äußerst Dummes zu tun. Ihrer Mutter hatte sie überhaupt nichts von ihrem Vorhaben erzählt. Wenn Amelie in der Einöde vor Uppsala verschwand, würde dort niemand nach ihr suchen.
Mit einem flauen Gefühl im Magen starrte sie aus dem Bu sfenster. Mit jedem Kilometer, den sie sich von der Stadt entfernte, wurde das Land rauer und unberührter. Dichte Tannenwälder erstreckten sich neben der Bundesstraße, gelegentlich durchbrochen von Wiesen und Feldern. Über alldem ragte ein grauer Himmel auf, der von drohendem Unheil zu künden schien.
Eine halbe Stunde später passierte der Bus das Ortseingang sschild von Länna, einem siebenhundert-Seelen-Dorf innerhalb der Gemeinde von Uppsala. Die Straße wand sich an einem malerischen See entlang, auf der anderen Seite verlief ein kleiner Bach. Amelie entdeckte eine Wassermühle, einen winzigen Gemischtwarenhandel und eine Holzkirche. Das Örtchen wirkte verschlafen, und man sah nur wenige Menschen auf den Straßen. Der Stil der Wohngebäude entsprach der typischen Holzarchitektur der Vororte Südschwedens: bunt gestrichene Fassaden mit weiß abgesetzten Fensterrahmen und farblich passender Veranda.
Es gab nur eine Haltestelle im Ort. Amelie stieg als einziger Fahrgast aus und sah dem Bus noch hinterher, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Die Luft roch frisch und sauber. Die Straße grenzte direkt an einen See, dessen volle Ausmaße Amelie nicht ausmachen konnte, denn sein gegenüberliegendes Ufer verschwand im dichten Nebel. Es gab nur wenige Wohnhäuser, die sich in die bewaldete Landschaft schmiegten wie Farbkleckse auf einem Gemälde. Ein wunderschöner Ort für einen Ausflug ins Grüne - wenn das Wetter besser gewesen wäre. Amelie atmete tief ein und schloss die Augen. In der Ferne hörte sie Wasservögel kreischen, in den dicht beblätterten Bäumen am Straßenrand sangen Meisen um die Wette. Ein lauer Wind strich durch das Laub. Schade, dass Sara das nicht sah. Es glich einer Wohltat für alle Sinne, dem Trubel in Uppsala einmal zu entfliehen.
Der Gedanke an ihre Freundin brachte Amelie auf das zurück, weshalb sie hergekommen war. Sie griff in ihre Jackentasche und förderte den Zettel mit der Wegb eschreibung zutage, die sie sich mithilfe einer Straßenkarte angefertigt hatte. Das Anwesen von Herr Eriksson befand sich demnach nur wenige Gehminuten von der Bushaltestelle entfernt.
Amelie bog in eine Seitenstraße ein. Es ging sanft bergauf, an satten grünen Wiesen und einem Lan dhaus vorbei. Am Ende der Straße zweigte ein Pfad nach links ab, geradewegs auf ein Waldstück zu. Es gab nur ein handgeschriebenes Straßenschild, das den Weg als »Kleine Waldstraße« betitelte. In Amelies Straßenkarte und auch im Internet hatte sie den Pfad gar nicht finden können, aber darauf hatte Herr Eriksson sie bereits am Telefon aufmerksam gemacht. Dennoch war sie sich sicher, den richtigen Weg gefunden zu haben, denn ein zweites Schild wies schlicht auf eine Villa hin, mit einem Pfeil in Richtung des Straßenverlaufs. Allmählich beschlich Amelie ein ungutes Gefühl, und die Stimme ihrer Mutter hallte in ihrem Kopf wider. »Kind, was machst du denn? Geh niemals allein in einsame Gegenden, bla bla bla.« Sie fühlte sich tatsächlich nicht wohl dabei, und sie wünschte Sara wäre an ihr verdammtes Handy gegangen, als noch Zeit dafür gewesen war. Noch war es nicht zu spät, Amelie konnte zurück gehen, auf den nächsten Bus warten und das Angebot einfach vergessen. Doch irgendetwas zwang ihre Beine dazu, immer weiter zu gehen, als zöge ein Magnet an ihr.
Der Untergrund war matschig, und ein paar vereinze lte Regentropfen platschten auf ihren Kopf. Das Wasser weckte die Gerüche der Erde, ein herrlicher Duft. Der Weg schlängelte sich etwa dreihundert Meter weit in den Wald hinein, stieg dann etwas steiler an und führte auf eine Lichtung
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