Herzen aus Asche
hinaus. Hinter einer Biegung schob sich ein dreistöckiges Gebäude in ihr Blickfeld. Der Anblick jagte Amelie einen Schauder über den Rücken, obwohl sie nicht genau benennen konnte, weshalb. Ein Zaun mit einem schmiedeeisernen Tor umfasste das Gebäude und einen weitläufigen Vorgarten. Langsam ging Amelie darauf zu und griff nach der Klinke. Es war nicht verschlossen und schwang mit leichtem Druck quietschend nach innen auf. Ihr Herz schlug so laut, dass sie das Blut in ihren Ohren rauschen hörte. Jede Faser ihres Körpers schrie nach Flucht, doch noch immer fühlte sie sich von diesem Ort wie magisch angezogen.
Amelie befand sich in einem Garten, der schon seit Jahren nicht mehr gepflegt zu werden schien. Der Weg, der zum Eingangsport al der Villa führte, bestand aus weißen Platten, die mittlerweile jedoch stellenweise grün und verwittert waren. Zwischen den Fugen drängten sich Gräser und Unkraut hervor. Die Beete ließen sich nur noch mit Mühe als solche erkennen, denn hohe Brombeergebüsche und Wildblumen überwucherten die gesamte Fläche und machten auch vor den gepflasterten Abschnitten nicht Halt. Amelie kämpfte sich vorwärts, Dornen zerkratzen ihre Ellenbogen. Sie fragte sich, ob es noch einen anderen Weg ins Haus gab, oder ob Herr Eriksson sich auch jedes Mal so mühsam durch das Gestrüpp schlug, wenn er die Villa betreten wollte. Amelie schüttelte den Kopf. Jemand, der ein solches Anwesen besaß und einen Mieter umsonst hier wohnen lassen wollte, müsste doch genug Geld für einen Gärtner übrig haben! Wieder durchzuckte Amelie kurz eine dunkle Vorahnung. Tief in ihrem Inneren spürte sie, dass hier etwas nicht stimmte, dennoch setzte sie tapfer einen Fuß vor den anderen.
Als sie vor dem Eingangsportal stand, hob sie den Blick. Als leide nschaftliche Liebhaberin der neuzeitlichen Künste, erkannte sie sofort, dass das Gebäude nach den Vorbildern der Renaissance errichtet worden war, obwohl sie bezweifelte, dass es tatsächlich aus dem sechzehnten Jahrhundert stammte. Im neunzehnten Jahrhundert hatten einige schwedische Architekten den Stil für sich wiederentdeckt, dennoch dürfte das Haus als Rarität gelten, denn die meisten Bauherren aus dieser Zeit hatten sich gegen den Historismus gewandt und eher Elemente aus dem Jugendstil aufgegriffen.
Die Villa bestand aus sandfarbenem Stein und hatte noch zwei Etagen über dem Erdgeschoss. Die Fassade war vollkommen symmetrisch aufgebaut, die Anzahl, Form und Aufbau der Fenster in jedem Stockwerk war gleich. Über dem mittigen Eingangsportal gab es im zweiten Stock einen kleinen Erker. In die Wand eingearbeitete Säulen bildeten rechts und links jeweils den Fensterabschluss, darüber zierten halbkreisförmige Giebel die Fassade. Das Dach hatte eine flache Neigung und an der Stelle, an der der Erker aus der Wand des oberen Geschosses hervortrat, wölbte sich eine Kuppel in den Himmel.
Amelie starrte wie gebannt nach oben und vergaß darüber hinaus beinahe, weshalb sie gekommen war. Sie hatte nicht gewusst, dass sich ein Meisterwerk der ne uzeitlichen Baukunst direkt vor den Toren ihrer Stadt befand, und keiner ihrer Professoren hatte es je erwähnt.
»Sind Sie Amelie Ivarsson?«
Sie zuckte zusammen. Einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, ihre Beine würden unter ihr nachgeben. Sie hatte sich niemanden nähern hören und konnte sich nicht erklären, woher der junge Mann, der hinter ihr stand, so plötzlich gekommen war. Er schien ihr Entsetzen bemerkt zu haben, denn rasch fügte er hinzu: »Es tut mir sehr leid. Es war nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. Zögerlich griff Amelie danach. »Ich bin Leif Eriksson, wir haben miteinander telefoniert, sofern sie Frau Ivarsson sind.«
Amelie brachte nur ein Nicken zustande. Sowohl a ngesichts des Schreckens, der ihr noch in den Knochen steckte, als auch aufgrund der Erscheinung von Herr Eriksson, den sie sich ganz anders vorgestellt hatte. Er war über einen Kopf größer als sie, mit breiten Schultern und einer sportlichen Silhouette. Seine dunklen, kinnlangen Haare fielen ihm kess um das kantige Gesicht. Sie waren feucht, als hätte er sich gerade erst die Haare gewaschen. Ein paar dunkle Bartstoppeln umspielten sein Kinn, und ein Paar stechend blaue Augen leuchteten ihr entgegen. Er trug eine dunkle Jeans, darüber ein Jackett. Ein sportlicher und eleganter Typ, der einem Werbespot für ein teures Männerparfüm hätte entsprungen sein können. Er
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