Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
auszudenken, was geschehen könnte, wenn sie auch noch ihren Bruder verlieren würde, zeigte sie doch bereits unübersehbare Anzeichen psychischer Instabilität. Es war eine unhaltbare Situation. Schließlich war es Fraser – der Rangun unbedingt verlassen wollte, was zu tun ihm mit reinem Gewissen zurzeit aber nicht möglich war –, der das konfessionsungebundene Waisenhaus vorschlug, welches die britischen Ehefrauen mehrerer Reisplantagenbesitzer in ihrem Drang, die Welt zu verbessern und Rangun ihren Stempel aufzuprägen, vor zehn Jahren gegründet hatten. Jetzt, nachdem sie durch die Geschäftstüchtigkeit ihrer Ehemänner reich geworden waren, hatten sie das Interesse an ihrem Projekt verloren und die Leitung des Waisenhauses einem Mann namens Dr. Brent übertragen.
Und so kam es, dass sich die Geschwister Sinclair kaum drei Wochen nach dem tödlichen Unfall ihres Vaters und dem kurz darauf erfolgten Selbstmord ihrer Mutter im All Burma Children’s Home wiederfanden, einer kleinen, bereits ziemlich heruntergekommenen Siedlung, die von hohen Pepulbäumen umgeben war. Das Waisenhaus beherbergte vierzig Jungen und Mädchen, die dort ein Bett, ein Dach über dem Kopf und zwei Mahlzeiten am Tag erhielten. Außerdem fand eine Art Schulunterricht statt. Die Einrichtung finanzierte sich mehr schlecht als recht durch die Spenden englischer Herren, die vor geraumer Zeit die burmesischen Mütter ihrer Kinder verlassen hatten, um nach Großbritannien zurückzukehren und dort eine standesgemäße englische Braut zu heiraten, und nicht zuletzt durch die Arbeit der Kinder selbst, die Körbe flochten und in der Stadt verkauften.
Diesmal war es jedoch kein Auto, sondern ein einfacher Pferdekarren, in dem sich die Geschwister zusammen mit Mr. Fraser auf den Weg machten, was bedeutete, dass sie verschwitzt, staubig und durstig an ihrem Ziel ankamen. Bella hatte Neds Hand die ganze Fahrt über kein einziges Mal losgelassen. Wäre seine kleine Schwester nicht gewesen, hätte Ned es riskiert, sich aus dem Staub zu machen und Arbeit in den Plantagen zu suchen.
Die Anlage bestand aus drei flachen Haupthäusern und verschiedenen kleineren Bungalows mit umlaufenden Veranden, die auf einem etwa ein Hektar großen Gelände standen. Die Bäume in der Ferne sahen aus wie eine undurchdringliche W and, und Ned fragte sich, ob dort der Dschungel begann, vo n dem er gehört hatte. Der Putz an den Wänden der Bungalows hatte bereits Risse, die Fensterläden hingen schief in ihren Angeln, aber es war vor allem die überall abblätternde Farbe, die den desolaten Eindruck verstärkte. Man hatte der ursprünglichen Architektur einige schlecht gelungene Ergänzungen hinzugefügt und so die einst schlichte Eleganz des großen Hauptbungalows durch überflüssige Pfeiler und einen unpassenden Vorbau zerstört.
Etwa ein Dutzend Kinder kamen mit strahlendem Lächeln herbeigelaufen und plapperten etwas auf Burmesisch. Ned schätzte sie auf fünf bis sieben Jahre. Nur ein einziger Junge wa r deutlich älter. Er hielt sich im Hintergrund, hob aber dennoch schüchtern die Hand zum Gruß. Dann lächelte er sie zu rückhaltend an. Ned stellte mit Erstaunen fest, dass Bella, die schräg hinter ihm saß, dem Jungen bereits freundlich zuwinkte. Nach seiner Einschätzung war dieser ein paar Jahre älter als Bella, aber jünger als er selbst. Obwohl sein Haar schwarz war, hatte seine Haut die Farbe von Milchkaffee, so dass er sich nicht nur von seinen dunkelhäutigen Schützlingen, sondern auch von den Sinclairs deutlich unterschied.
Auf der Hauptveranda stand eine Frau in hochgeschlossener, gestärkter weißer Kleidung, die ihre Augen mit der Hand vor der Sonne abschirmte, während sie darauf wartete, dass die Neuankömmlinge vom Karren stiegen.
»Mr. Fraser? Ich bin Hausmutter Brent.«
»Oh, hallo. Also, Ned, dann wollen wir dich und Bella einmal vorstellen, nicht wahr?«, sagte Fraser freundlich, obwohl Ned ihm anmerkte, wie nervös er war. Es war unübersehbar, dass er so schnell wie möglich von hier fortkommen wollte. »Macht euch keine Gedanken wegen eurer Sachen«, wandte er sich an Ned, als dieser seine Schwester vom Karren hob, dann wechselte er in die Landessprache, um dem Kutscher ein paar Anweisungen zu geben. Als die aufgeregten Kleinen sie lachend und singend ins Hauptgebäude hineinbegleiteten, hatte Ned den älteren Jungen bereits wieder vergessen. Ihre Koffer befanden sich noch im Hotel, wo sie sicher aufbewahrt werden würden, bis eine
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