Herzen aus Stein (German Edition)
man das Böse spüren konnte. Die Menschen mieden solche Gege n den unbewusst. Es waren besondere Plätze, an denen sich Dämonen gern aufhielten oder versammelten.
Noir erschauderte und schmiegte sich an Vincents nackte Brust. Von nun an musste sie allein weiter.
„ Ich werde über dich wachen. So wie früher “ , sagte er und fuhr mit beiden Händen unter ihre Kapuze, um ihre Wangen zu u m schließen.
Dann küssten sie sich. Sie wollte den Kuss am liebsten nie enden lassen, sog Vincents Wärme und seinen Geruch in sich auf und ve r suchte , sich jedes Detail seines Gesichts einzuprägen. Sie wusste nicht, ob es vielleicht ihr letzter gemeinsamer Moment war.
Vincent umarmte sie fest und hob sie an ihrem Po ein Stück hoch. „ Tu nichts Unüberlegtes. “
„ Hmm. “ In ihrer Brust wurde es eng. Sie wollte sich nicht von Vincent trennen. Sie hatte Angst, unvorstellbar große Angst. Was, wenn sie Jamie nie wiedersah ? Oder wenn sie bei dem Versuch, ihn zu retten, starb? Wer würde ihn dann aus der Unterwelt und von Ceros befreien? Sie wollte so gern Vincent darum bitten, aber das konnte sie nicht von ihm verlangen. Von niemandem. Außerdem sollte er den Rest seines Lebens mit schönen Dingen verbringen, insofern er das noch konnte, wenn sie tot war. Zu wissen, dass er bald starb, schmerzte sie zusätzlich und machte einen Abschied schwerer.
„ Mein Schutzengel “ , hauchte sie an seinem Mund, bevor sie sich mit einem dumpfen Gefühl, das ihren Körper in seinen Klauen hielt, von ihm löste.
Vincent verwandelte sich komplett in einen Gargoyle, weil er so am stärksten war, und trieb seine Klauen in die Hauswand. Putz und Ziegelstückchen rieselten herab, als er in Windeseile bis zum Dach kletterte. Wie stark er war. Noir schaute fasziniert dem Spiel seiner Muskeln zu und bewunderte seine Geschmeidigkeit. Er blickte noch einmal kurz nach unten und winkte ihr, dann war er verschwunden.
„ Okay “ , flüsterte sie und atmete die verpestete Luft ein. Langsam ging sie die düstere Straße entlang, die ihr endlos vorkam. Sie hatte keine Ahnung, was gleich geschehen würde, aber ihre sensiblen Si n ne meldeten Gefahr. Es stank nach Abfall, und eine verwahrlost aussehende Katze stöberte im Müll. Noir blieb wachsam und zog beide Messer aus ihren Stiefeln. Diese verbarg sie in den langen Ä r meln ihres Umhangs.
Der Regen wurde stärker. Das Prasseln der dicken Tropfen auf die Blechtonnen zerrte an ihren Nerven. Sie würde nicht hören, wenn sich ihr jemand näherte. Ständig sah sie sich um, weil sie glaubte, verfolgt zu werden. Es war jedoch nur das Geräusch ihrer Schritte, das von den Wänden zurückgeworfen wurde.
Endlich erreichte sie die Gasse – das letzte Stück bis zum Ziel –, in der es noch dunkler war, weil die Häuser dicht beieinanderstanden. Sie konnte den Hinterhof erkennen, aus dem es keinen anderen Au s gang gab als diesen schmalen Weg. Sie würde in der Falle sitzen, wenn ihr jemand diese Passage versperrte.
Noir schaute sich noch einmal um, doch alles wirkte gespenstisch verlassen. Zu ruhig, bis auf den Regen und das Trommeln ihres Pu l ses in den Ohren. Dann schritt sie weiter. Kurz darauf erschrak sie und wirbelte zur Seite herum, weil sie einen Schatten neben sich bemerkte – aber es war nur ihr Spiegelbild in einem verschmutzten Fenster. Ihr Herz raste, Flecken tanzten vor ihren Augen. Diesen Weg entlangzugehen war das Schwerste, was sie jemals getan hatte.
Als sie es endlich in den Hof geschafft hatte und den Antiquitäte n laden vor sich sah, tauchte wie aus dem Nichts eine Frau vor ihr auf, mit blonden Haaren und … weißen Flügeln.
Noir japste nach Luft und wollte schon ihre Messer auf die E r scheinung schleudern. Rechtzeitig hielt sie sich zurück. Das hier war definitiv kein Dämon.
Noir zwinkerte – die Frau verschwand jedoch nicht. In zwei Meter Entfernung blieb sie vor der Gestalt stehen. Sie wusste, was sie war, denn sie strahlte etwas Reines und Gütiges aus, dass Noir keine Angst mehr spürte.
„ Du bist ein Engel “ , wisperte sie ehrfurchtsvoll.
Das geflügelte Wesen nickte. Wow, sie hätte nie gedacht, einmal persönlich einem Engel zu begegnen. Ob Vincent sie in diesem Moment auch sehen konnte? Noir war versucht, nach oben zu schauen, aber sie wollte niemandem einen Hinweis darauf geben, dass sie nicht allein war.
Sie hatte sich Engel immer als kleine, dickliche Kinder vorgestellt, gleich den Putten, wie sie in Kirchen zu finden waren. Auf keinen Fall
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