Herzen aus Stein (German Edition)
dreißig, soeben fuhr der letzte Zug. Wie ein dunkler Blitz huschte Vince in den Tunnel, damit ihn die Überwachungskameras nicht bemerkten. Falls doch, hatte er seine Schwingen so um seinen Körper gelegt, dass er auf den ersten Blick aussah wie ein gewöhnlicher Mann in einem Mantel. Als die Métro den Bahnhof verließ, hängte sich Vince an den letzten Wagen. Er atmete auf, weil diese Wagons nicht so laut quietschten oder ratte r ten wie die der Londoner Underground. Die französischen Fahrze u ge waren tatsächlich gummibereift. Was für eine Wohltat für seine Ohren.
Einmal war Noir mit dem Zug von London nach Dublin gefahren, da hatte sich Vince erst unter dem Wagon, später im Gepäckraum versteckt. Das war auch kein angenehmes Reisen gewesen. Sein grauenvollstes Erlebnis war allerdings, als Noir in den Katakomben von Prag auf Dämonenjagd gegangen war. Sie hatte den Untergrund durchstreift, war durch stillgelegte U-Bahn-Schächte geschlichen und ständig von einem Ort zum anderen gefahren. Dabei hätte sie Vince einmal fast erledigt, weil er ihr in einem Tunnel zu nah gekommen war. Ein Dämon hatte sich ihr unbemerkt genähert, den Vince ku r zerhand getötet hatte. Leider hatte der Unterweltler seine Hexe b e reits verletzt gehabt. Im Schein des in Flammen aufgehenden D ä mons musste Noir Vincent gesehen haben, denn sie hatte sofort ein Messer nach ihm geschleudert. Es hatte sein Ziel nicht verfehlt, o b wohl Noir zusammengekrümmt am Boden gelegen hatte – Vincent hatte eine Narbe am Oberarm davongetragen, wo die Klinge ihn zum Glück nur gestreift hatte.
Hoffentlich setzte sich Noir bald zur Ruhe. Er war wenig zuve r sichtlich. Noir war jung und voller Elan. In Prag hatte sie nach dem Kampf ein Krankenhaus aufgesucht, das sie erst zwei Tage später verlassen hatte. Vincent wusste heute noch nicht, wie schwer ihre Verletzungen gewesen waren. Diese ständige Angst um sie zermür b te ihn.
Als er hörte, dass Noir aus ihrem Wagen stieg, suchte er nach der nächstbesten Möglichkeit, um aus dem Tunnel nach oben zu gela n gen, und hatte die Gunst auf seiner Seite. Er kroch aus einem Belü f tungsschacht, dessen Gitter zwar versperrt war, doch mit einem Hieb seiner Handkante sprang das Schloss auf. Vincent kletterte hinaus. Er war in einem kleinen, kaum beleuchteten Park gelandet. Es duftete nach Laub, das ein Luftzug aufwirbelte und in seinen Ohren ein sanftes Rascheln erzeugte. Vince liebte die Zeit, wenn das hektische Leben der Menschen zur Ruhe kam, denn die Stille scho n te sein Gehör.
Er streckte sich, sodass seine Knochen knackten. Die Frau ve r stand es, einen auf Trab zu halten. Er war schmutzig und sehnte sich nach einem Bach, in dem er sich waschen konnte. Im Park gab es einen Brunnen; viel lieber wäre ihm eine Dusche mit Shampoo, Seife und einer harten Bürste gewesen. Kurz geriet er ins Träumen, wä h rend er sich mit dem kalten Nass des Brunnens Schweiß und Dreck von der Haut wusch. Wann hatte er das letzte Mal fließend War m wasser gehabt? Irgendwann diesen Sommer hatte er sich nachts eine Dusche in einem Freibad gegönnt. Das schien Ewigkeiten her zu sein.
Sein Beschützerinstinkt erwachte wieder, als er Noirs Schritte und ihren vertrauten Duft wahrnahm. Vincent blickte sich um. Auf e i nem Schild stand: Champs-Élysées . Auf der anderen Seite der Straße erkannte er einen beleuchteten Rundbau – es war ein Theater. In der Nähe rauschte ein Gewässer. Das musste die Seine sein. Sie roch anders als die Themse.
Noir kam als einzige Person aus der Metro. Vincent duckte sich hinter einen Busch, um zu beobachten, wie sie im Halbdunkel des Parks verschwand und mit der Umgebung verschmolz. Er folgte ihr in sicherer Entfernung. Sie trug ihre schwarze Perücke, ihren U m hang, den Rucksack. Sie überquerte eine Straße und betrat einen weiteren Park, i n dem die Bäume dicht an dicht standen. Scheinbar ziellos streifte sie durch die Anlage, eilte anschließend über die Av e nue de Marigny , und verschwand im Eingang eines mehrstöckigen Hauses, über dem grell die Buchstaben HOTEL leuchteten.
Endlich! Vincent seufzte. Er hatte schon befürchtet, sie kämen nie an. Da das Hotel gleich gegenüber dem Park in einer weniger b e leuchteten Seitenstraße lag, konnte ihn niemand sehen, als er an der Fassade hinaufkletterte. In der Ferne erblickte Vincent den beleuc h teten Eiffelturm und die nächste Metro-Station war auch gleich an der Ecke. Der Magier hatte einen günstigen Standpunkt
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