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Herzenhören

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Titel: Herzenhören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Sendker
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voneinander. Ich wurde zunehmend empörter, und er blieb gelassen. Als wäre ich es, die ihr Leben geopfert hatte, und nicht er.
    »Haben Sie es manchmal bereut, nach Kalaw zurückgegangen zu sein?«
    »Bereuen kann ich nur eine Entscheidung, die ich bewusst und freiwillig getroffen habe. Bereuen Sie, dass Sie mit der linken Hand schreiben? Was ich gemacht habe, war selbstverständlich. Jeder Birmane an meiner Stelle hätte dasselbe getan.«
    »Warum sind Sie nach dem Tod Ihrer Mutter nicht nach Rangun zurückgekehrt? Vielleicht hätte es doch noch eine Möglichkeit gegeben, nach England auszuwandern.«
    »Wozu? Muss man die Welt gesehen haben? Alle Gefühle, zu denen wir Menschen fähig sind, die Liebe und den Hass, die Angst und die Eifersucht, den Neid und die Freude, finden Sie in diesem Dorf, in jedem Haus, in jeder Hütte. Sie müssen nicht einmal danach suchen, Sie müssen sie nur sehen.«
    Ich blickte ihn an, und was ich sah, rührte mich: ein kleiner Mann, in Lumpen gekleidet, mit Zahnstummeln im Mund, der mit etwas Glück jetzt ebenso gut als Professor in einer luxuriösen Wohnung in Manhattan oder einem Haus in einem Londoner Vorort sitzen könnte. Einer von uns beiden schien mir maßlos. War ich es mit meinen Ansprüchen, oder war er es in seiner Bescheidenheit? Ich war mir nicht sicher, was ich für ihn empfand. Mitleid war es nicht. Es war eine sonderbare Art der Zuneigung. Ich wollte ihn beschützen und wusste doch, dass er meinen Schutz nicht brauchte. Gleichzeitig fühlte ich mich in seiner Gegenwart sicher, fast geborgen. Als hielte er die Hand über mich. Ich vertraute ihm. Bisher hatte ich geglaubt, man müsse einen Menschen kennen und verstehen, um ihn zu mögen oder sich ihm nah zu fühlen.
    8
    I ch dachte an meinen Vater. Wir stehen auf der Brooklyn Bridge in New York. Ich bin acht oder neun Jahre alt. Ein Herbsttag mit einem frischen Wind, in dem bereits die Kälte des Winters liegt. Ich bin zu dünn angezogen und friere. Mein Vater legt mir sein Jackett um die Schultern. Die Ärmel sind viel zu lang, ich versinke darin, aber es wärmt. Durch die Ritzen der Bretter zu meinen Füßen sehe ich tief unter mir Sonnenstrahlen auf dem Wasser des East River hüpfen. Könnte mein Vater mich retten, wenn die Brücke jetzt einstürzen würde? Ich schätze den Abstand zum Ufer, er ist ein guter Schwimmer, und ich habe keine Zweifel. Ich weiß nicht, wie häufig wir dort zusammenstanden. Oft wortlos.
    Mein Vater liebte diese Orte in New York, die eigentlich nur von Touristen aufgesucht werden. Die Schiffe der Circle Line, die Manhattan umrunden. Das Empire State Building. Die Freiheitsstatue, die Brücken. Als ob er auf der Durchreise wäre. Am häufigsten zog es ihn auf die Fähre nach Staten Island. Manchmal lief er nach dem Büro noch hinunter an die Anlegestelle und fuhr mit dem Boot hin und zurück. Ich erinnere mich, dass wir einmal an der Reeling über den Autos standen und er sagte, dass er nicht begreifen könne, wie sehr sich der Hafen und die Skyline der Stadt verändert hätten. Wenn er die Augen schließe, sehe er noch immer dasselbe Bild wie an jenem bitterkalten Morgen im Januar 1942, an dem der Wind so eisig war, dass es außer ihm kaum jemand an Deck ausgehalten hatte.
    Ich habe damals nicht verstanden, was ihn an diese Orte zog, die jeder New Yorker mied, es sei denn, er hatte Besuch aus der Provinz. Später war es mir langweilig, als Teenager wurde es mir peinlich, und ich begleitete ihn nicht mehr. Jetzt meine ich, dass er unter den Touristen die nötige Distanz fand zwischen sich und der Stadt, zu der er nie wirklich gehörte. Ich vermute, es waren seine Fluchtpunkte, wenn er es vor Sehnsucht kaum mehr aushielt. Fühlte er sich dort Mi Mi am nächsten? Sah er sich mit dem Schiff oder Flugzeug New York verlassen? Träumte er sich davon?
    U Ba und ich liefen den Ochsenpfad hinauf bis zur Kuppe. Es war Nachmittag geworden. Die ersten Feuer brannten vor den Hütten, und der Wind verteilte den Rauch über den Höfen. Der Geruch von brennendem Holz am Abend war mir mittlerweile vertraut geworden.
    Ich wusste nicht, wohin wir gingen. U Ba hatte gesagt, es gäbe nur einen Ort, an dem er mir die Geschichte zu Ende erzählen könnte. Er war aufgestanden, hatte die Thermoskanne und die Becher in seine Tasche gepackt, die Bank zurückgebracht und mir ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen. Er schaute auf seine Armbanduhr und verlangsamte seinen Schritt. Als hätten wir eine Verabredung und wären zu

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